Indisches Tagebuch **

Aufzeichnungen während eines mehrwöchigen Aufenthalts in Kottayam im Rahmen der Erstellung meiner Diplomarbeit über M. Gandhi ...
Frühjahr 1996
 

11.2.1996

... Beim Verlassen des Flugzeugs in Bombay atme ich erstmals indische Luft ein und mir wird unmittelbar klar, dass ich in einer anderen Welt gelandet bin.

... Ich besteige den „antiken“ Bus und bin mehr als eine halbe Stunde der einzige Fahrgast, allein mitten in der Nacht nur mit dem Fahrer, der über dem Lenkrad döst, irgendwo am Flughafen von Bombay. Ängstlich, skeptisch und völlig unsicher sitze ich da und mir bleibt nicht anderes übrig, als Vertrauen zu haben, in die unbekannten Menschen, die nach und nach den Bus besteigen und langsam füllen.

... Eine abenteuerliche Busfahrt führt mich nach Kottayam ... Der Fahrer überholt alles, was auf Rädern unterwegs ist. Somit ist der Linienbus das schnellste Verkehrsmittel auf Indiens Straßen. Wenn man noch schneller sein will muss man schon das Flugzeug nehmen.

Die erste Begegnung mit der grünen Oase Indiens ist überwältigend. Zwei Stunden Fahrt vergehen wie im Flug. Tropische Palmenheine und Urbanität lösen sich in einer unendlichen Abfolge ab. Die Luft ist stickig, Abgasgeruch und Fäkaliendunst vermengen sich zu einem eigentümlichen sinnlichen Erlebnis.

Als ich beim „Busstand“ in Kottayam aussteige, plagt mich Durst. Ein Getränkeverkäufer bietet hausgemachte Zitronenlimonade an. Ich schlage zu und genieße sie arglos. Der zu erwartende Durchfall bleibt aus. Zum Glück hat er abgekochtes Wasser verwendet.

12.2.1996

Die erste Nacht ist gut überstanden. Bin nur einwenig geschlaucht. Durch das Moskitonetz hatte ich kein Problem mit den Gelsen.

... Der Zugang zur Bischofskirche ist mit einem durchgehenden Baldachin aus bunten Ketten geschmückt. Darunter liegt ein roter Teppich. Aus den Lautsprechern tönt religiöse Musik. Mit bunten zu Sonnenschirmen umfunktionierten Regenschirmen wird der Präfekt in die Kirche geleitet. Begleitet wird die Prozession von einem ohrenbetäubenden Feuerwerk, das sich wie MG-Salven anhört.

Dem SEERI gegenüber befindet sich die öffentliche Bibliothek von Kottayam. Sie gleicht einer verstaubten, finsteren Fabrikshalle. Dort sehe ich zum ersten Mal die „Collected Works“ von Mahatma Gandhi, ein respekteinflösendes Konvolut vieler schwerer Bände.

Das Wasser im SEERI ist mit Anis und einigen weiteren mir nicht bekannten Kräutern abgekocht, annähernd dunkelbraun, immer lauwarm und seltsam schmeckend, vor allem für jemanden, der kristallklares österreichisches Hochgebirgswasser gewöhnt ist. Doch die braune Brühe löscht Durst hervorragend.

13.2.1996

Der erste Besuch an der Mahatma Gandhi University (M. G. Uni) in Kottayam steht an. Die Bus-Fahrt dorthin ist – wie zu erwarten – wieder „kriminell“. Diesmal wegen der vielen Schlaglöcher auf dem Weg.

 

Vor dem Schlafengehen bleibe ich bei einem Satz in H. P. Hasenfratz’s Buch „Der indische Weg“ hängen: “Wer Indiens Spiritualität kennenlernen möchte, macht den Versuch, einen Ozean auszudrinken“

14.2.1996

Ich habe das Gefühl, dass es von Tag zu Tag heißer wird in Kottayam. Vor allem der Universitätsbesuch bereitet mir „klimatische“ Schwierigkeiten. Es gibt kaum Bäume auf den Hügeln, sodass der Weg zur „School“ zur Tortur wird.

Abends in meinem Zimmer nehme ich den letzten Schluck Whiskey aus der kleinen Flasche die ich mir im Duty free Shop auf Anraten erfahrener Indienreisender zur Desinfektion gekauft hatte. Ich überlege, wie ich zu weiterem Alkohol kommen könnte, verwerfe den Gedanken aber bald. Mir wird klar, dass jetzt eine längere Zeit der alkoholischen Abstinenz anbrechen würde.

15.2.1996

... Wohne mit Father Jakob einem Begräbnis bei ... Die Musik besteht aus langgezogenen schräg klingend Tönen beinahe ohne Rhythmus. Sie erinnert mich an Trauermusik-Kompositionen von Klaus Lang ...

16.2.1996

... Dort fällt mir eine interessante Form der Arbeitsteilung auf: Für beinahe jeden Handgriff gibt es eine eigene Person. Eine kocht den Tee, eine andere bringt ihn. Wieder eine andere schenkt ihn ein, während eine weitere ihn schließlich abserviert. Dass das Geschirr nicht von einer der bisher am Prozess beteiligten Personen gespült wird, liegt auf der Hand, wenngleich ich dies nicht belegen kann. Ist das die indische Antwort auf die Überbevölkerung? *

Indien ist ein Land voller Sinnlichkeit und Kontraste. Es ist schmutzig und sauber zugleich, es duftet herrlich und gleichzeitig stinkt es erbärmlich, es ist reich und zugleich bitterarm, Indien gibt Dir ständig kalt und warm, es ist wie eine harte Kneippkur. 

18.2.1996

Oh Indien, Indien! Du hast täglich einen kleinen Schock für mich bereit. Das Jugendtreffen von Karukutty ist nichts für mich, ich ergreife frühzeitig die Flucht.  Ich hab Schwierigkeiten  mit der Distanzlosigkeit und ertrage die Vereinnahmung nicht ...

Hier wird mir bewußt, dass dieselbe Welt doch aus ganz unterschiedlichen Welten besteht. Die Welt hier ist eine andere, als jene die ich kenne und es fällt mir momentan nicht leicht, mich in die Menschen dieser Welt hineinzuversetzen.

20.2. 1996

Die Inder haben ein gespaltenes Verhältnis zur Sauberkeit. Die sauber und lebensfroh gekleideten Menschen bewegen sich durch Müllhalden. Die Häuser sind schmutzig, die Straßen sind schmutzig, die Luft ist schmutzig. Ganz als wollte man zeigen, dass nur der Mensch der Reinheit bedarf; und der Rest nur Schein ist, Materie, die in Wirklichkeit gar nicht existiert und deshalb auch keiner Achtung bedarf.

21. 2. 1996

Anfangs habe ich eher aus Pflichtgefühl am Chorgebet im SEERI teilgenommen. Jetzt ist es normaler Bestandteil meines Tagesablaufs. Ich verstehe kein Wort, kann nicht mitbeten und nicht mitsingen, aber es bietet mir Zeit und Raum, mich bewußt vor Gott hinzustellen, zu beten oder darüber nachzudenken, was mich bewegt.

22.2.1996

... Cochin ist schön, die Stadt lebt, sie pulsiert geradezu. Hier wird gefeilscht wie im Bazar. Man bekommt alles, was man sich vom Orient erwarten würde. Lagerhaus um Lagerhaus mit meterhohen Gewürzhaufen reihen sich in Cochins Gewürzdistrikt aneinander. Ein mannshoher Pfefferhaufen läßt mich an Salman Rushdies leidenschaftliche Liebesszene im Roman „Die Mitternachtskinder“ denken. Menschen, diese schönen dunklen indischen Menschen, drängen sich dicht in den Straßen, die gesäumt sind von teils verfallenden Häusern. Die Gassen sind eng, hier haben höchstens ein LKW und eine Autorikscha nebeneinander Platz und doch geschieht immer wieder das Wunder, dass zwei entgegenkommende LKWs es irgendwie schaffen, ohne Schrammen aneinander vorbeizukommen. Straßen die man bei uns höchstens noch für Radfahrer freigeben würde, tragen im Indien immer noch das Attribut Highway.

Auf dem Heimweg erlebe ich erstmals bewußt, wie die Nacht in Kerala hereinbricht. Dem dunstig schwülen Licht folgt plötzlich eine ganz eigenartige Stimmung, ich würde es einen orangegrünen Schleier bezeichnen, der sich rasch über die Palmenwälder legt. Dieses Schauspiel dauert nicht lange, in rascher Abfolge wird es düster und danach schon bald dunkel, so als müsste die Sonne sich besonders rasch zur Ruhe begeben, müde vom Tagwerk, das Land mit Hitze und Licht zu versorgen. Inzwischen sind kaum 5 Minuten vergangen ... Dann allerdings beginnt das Leben erst so richtig zu prodeln, überall gehen die Lichter an, die Inder gehen auf die Straßen, genießen die Abkühlung, auch wenn Sie kaum messbar ist.

 

23.2. 1996

... Auf keine der vier hervorragenden Mahlzeiten freue ich mich so sehr, wie auf das tägliche Frühstück: auf diese wunderbaren warmen kuchen- oder omletartigen Gebilde aus Reismehl (Idlis oder wie sie alle heißen), die kombiniert mit milden und dennoch würzigen Frühstückscurrys und durch Zugabe von Bananen stets mit einer gewissen süßpikanten Note spielen ...

Die Schärfe des Essens ist manchmal wirklich eine Herausforderung. Heute wurde ich durch ein Fischgericht hart auf die Probe gestellt. Ich bin wirklich nicht besonders scharfempfind-lich, aber dieses kleine Stück an sich vorzüglich schmeckenden Fisches hatte es in sich. Es war offenbar mit Chilly der Schärfestufe zehn gewürzt. Erstmals stand mein Mund in Flammen, da halfen selbst die ansonsten sehr effizient kühlenden Zwergbananen nicht mehr, die immer als „Löschmittel“ zur Verfügung stehen.

25.2.

Die Fahrt auf den Backwaters führt durch ein Paradies aus Wasser, Palmen und Sonne. Das Boot hält an zahlreichen Haltestellen, manche davon sind kleinere Häfen, andere bestehen einfach nur aus zweien Holzpflöcken mit Brett. Verglichen mit einer Busfahrt, die dich von oben bis unten durchschüttelt, sind die öffentlichen Wasservehikel sanfte Luxuskarossen ...

Ein Lüftchen, als würde eine Heerschar kühlender Ventilatoren vom Meer her blasen, bringt in der brütenden Hitze Erleichterung wie die rettende Ankunft in einer Wüstenoase. Und dazu feinster weißer Sand und die arabische See, die sich wie die Ewigkeit höchstpersönlich anfühlt ... Kaum habe ich meine von den Flipflops befreiten Füße in die heranströmende sanfte Wellpracht getaucht, bin ich auch schon umringt, von einer kleinen Gruppe junger Männer, die einen Predegree-Course am College besuchten. Wir plaudern entspannt, ich erzählte von Österreich, sie mir von Indien ...

27.2.

Heute begegnete ich beim Tee-Stand der M. G. Uni einem großen hageren kohlrabenscharzen Studenten aus dem Südsudan, der sich gerade an einem Becher heißen Chais labte. Wir kommen schnell ins Gespräch. Es erreicht innerhalb kürzester Zeit eine Tiefe, wie man es selten erlebt. Er ist ein Mann von großer Weisheit ... *

29.2.

Father Anthony war an diesem Tag auch zu einer Hinduhochzeit eingeladen. Auf dem Weg nach Ernakulam besuchen wir sie. Auch ich werde wie ein offiziell eingeladener Gast behandelt. Nach der Vermählungszereomie, von der wir nur noch den Schluss miterleben, stellt mich Father Anthony dem jung vermählten Paar vor. Ich gebe der Braut die Hand, was offenbar total unangebracht ist. Sie ist etwas peinlich berührt und ich natürlich auch. *

Hier lerne ich Catering auf Indisch kennen. Die Küche wird im Freien auf dem Boden aufgebaut. Riesige Kessel mit siedend heißem Öl für Papadams und überdimensionale Töpfe mit Reis werden von im Schneidersitz arbeitenden Köchen geschickt und in teilweise atem-beraubender Geschwindigkeit bedient. Serviert wird das Essen auf frischen Bananenblättern. Eine ganze Heerschar von „Kellnern“ - einer jeweils zuständig für eines die zahllosen Curries und Chutnys -  gruppieren diese aus Metallkübeln schöpfend appetitlich rund um den auf dem saftig grünen Blatt liegenden heißen Reis ...

Father Antony bezeichnet sich selbst auch als Hindu obwohl er katholischer Priester ist. Mit Hindu meint er nicht das Religionsbekenntnis sondern die Lebensform und Kultur. Er fühlt sich dieser seiner Kultur verpflichtet, Indische Kultur und Hinduismus seien nicht zu trennen ...

1.3. 

Der Herausgeber der Zeitschrift Jeevadhara (Lebensstrom) – ein katholischer Priester – hat mich zum Essen eingeladen. Er lebt gemeinsam mit einigen anderen Priestern im Verlagshaus. Nach jeder Äußerung, die er tätigt, lacht er laut auf. Väterliche Belehrungsheiterkeit und Herzensfrohheit fügen sich zu einer bekömmlichen Mischung.

3.3.

Die Menschen von Kerala richtig einzuschätzen bereitet mir momentan Schwierigkeiten ...
Manchmal hab ich den Eindruck, dass manche mich hier als Vorwand nehmen, um ausbrechen zu können bzw. um durch mich Dinge tun zu können, die zwar nicht verboten aber doch moralisch als eher unschicklich gelten.

4. 3. 1996

... Zu Fuß wandern wir zu einem „Buschrestaurant“, das aus Palmholz gefertigt und mit Bananenblätterrn gedeckt ist. Es gibt Tapioka mit Fisch, ein traditionelles Gericht aus Kerala. Dazu wird in Plastikbehältern Todi, ein milchiges, leicht alkoholhaltiges Getränk gereicht. Es wird durch Schlagen auf die Schale einer frischen grünen Kokosnuss gewonnen und schmeckt vorzüglich ...

6.3.

Auf der Strecke nach Kurishumala machen die beiden Syrologen Alain und Francois die! Entdeckung ihre Forschungsreise. Möglicherweise haben sie die älteste Kirche Keralas entdeckt. Eine syrische Inschrift spricht vom 12. Jahrhundert als Entstehungszeit.

7.3.

Der Kurishumala-Ashram ist ein religiöses Zentrum in den Bergen Keralas. Er liegt eingebettet in einer traumhaft schönen Landschaft, die irgendwie an Klischee-Fotos vom gelobten Land erinnert ... Es gibt hier auch Schlangen z. B. Kobras. Auf einem Spaziergang stoße ich auf eine tote. Aus Angst vor der Begegnung mit einem lebendigen Exemplar, taste ich mich nur äußerst vorsichtig voran.

Zusammenkunft mit Father Swami Mariabhakta aus dem Kurishumala Ashram, dem Freund meines Professors Otto König. Father Swami ist ein Erlebnis ... Ein Wort und seine Aura beginnt zu strahlen ... Es war Darshan, Begegnung mit einem heiligen Menschen, die ich heute erleben durfte.

9.3.1996

Ich wage mich zum ersten Mal in einen Hindutempel ... Glöckchen sind an den tief herabreichenden Dächern befestigt, die mitunter angeschlagen werden. Für einen Moment soll dadurch die Aufmerksamkeit der ansonsten in sich ruhenden Gottheit auf sich gelenkt werden ... Nach dem Tempelbesuch wird die Stirn markiert. Auch mir wird dieser plastilinähnliche Farbstoff in die Hand gedrückt; wohl weniger eine missionarische Anwandlung als ein Zeichen hinduistischer Offenheit.

13.3.1996

Im SEERI gibt es keine Waschmaschine. Gewaschen wird mit der Hand. Dazu schlägt man die eingeseiften Kleidungstücke wiederholt auf Steine ohne scharfe Kanten. Bis jetzt waschen die Bediensteten des SEERI mir ich die Wäsche. Irgendwie ist mir das aber unangenehm. ...  Ich werde von heute an die „indische Waschrumpel“ selbst betätigen.

19. 3. 1996

... Und dann wäre dann noch das Erlebnis mit dem öffentlichen Verkehr in Bangalore ... diese Verkehrsmittel sind nur theortisch nutzbar. Mir ist es während meines Aufenthalts dort nicht möglich auch nur einen einzigen Bus zu besteigen. Die Eingangstüren sind undurchdringbar mit Fahrgästen verstopft, sie klammern sich mitunter sogar in Trauben an der Außenseite des Fahrzeugs fest ...

22.3.

... Zurückliegt der zweite Ausflug mit Father Anthony. Er führt uns erneut Ernakulam. Es kommt wieder zur obligaten „Diskussion“ im Ambassador. Diesmal geht es um Religion, welche immer durch Creed, Cult and Code of Contact gekennzeichnet sei ... Mit etwas sekptischem Ohr lausche ich seinen Ausführungen und wundere mich wie spielerisch er Hinduismus und Christentum zu vereinen vermag, allen Widersprüchen zum Trotz.

30.3.1996

.... Ich bin schon etwas verbraucht vom im Zimmer liegen, Turnen, Gandhi lesen, Rauchen, Schlafen, Essen ... Hab keine Lust hinauszugehen. Es ist unerträglich heiß, das Atmen fällt immer schwerer. Ich habe ständig Hunger. Es ist eine Art von Heißhunger, meistens nach etwas Süßem ... Wenn ich abends nicht einschlafen kann, versuche ich zu singen, zu improvisieren. Das ist die einzige Erleichterung, die mir momentan zur Verfügung steht.

Lärm ist mein ständiger Begleiter. Während in aller Früh die Krähen lautstark zankend den Sonnenaufgang begrüßen, um wenig später von den Wäschern des Hotels nebenan abgelöst zu werden, die die Wäsche sauber peitschen, dröhnen unter Tags die höllisch lauten Stromaggregate. Am Abend schließlich strömt volkstmümliche Musik von allen Seiten auf die schon genervten Ohren ein, garniert noch mit dem - rein akustisch betrachtet - furchtbaren Geplapper einiger fundamentalistischer Prediger, die am liebsten den ganzen Vortrag über schreien würden.

31.3.1996

In einer Sache ist das indische Weltbild realistischer als das christliche ... Für den Hinduismus gibt es Fortentwicklung höchstens individuell nicht aber kollektiv. Das unveränderliche sprich ewige Kastensystem ist hier nur eine Bestätigung dafür.

7.4.1996

... Indien gemäß der Vorstellung, das ist eine Sache. Das Erlebnis Indiens. Das ist eine andere Sache. Die Liebe wird auf die Probe gestellt, wenn sie durch die Realität hindurchgehen muß ...

 

7.4.1996

Die Bhagavad Gita interpretiert Gandhi als Darstellung des Kampfes in der Tiefe des Menschen. Er selbst aber läßt uns bezüglich seines eigenen Kampfes im Ungewissen.

8.4. 1996

Mein Aufenthalt geht dem Ende zu. Die Spannung steigt, denn mir scheint als würde mich daheim ebenso viel Neues erwarten wie mich hier in Indien erwartet hatte.

Das Erlebnis, während eines so weltlichen Handelns wie dem Geldwechseln, ein Glaubensgespräch geführt zu haben, ist heute wohl nur (noch) in Indien möglich.

Indien – und das bestätigt sich gerade am Phänomen der Stromausfälle  – ist wohl eher Chaos mit zufälligen Unterbrechungen durch Ordnung als umgekehrt. Das Unangenehme an den Stromausfällen ist ungeachtet dessen, dass sie zum Glück meist nicht lange dauern, ihre Unvorhersehbarkeit sowie ihre unverschämte Häufigkeit ...

 

12.4. 1996

Gestern hatte ich die Möglichkeit, den ersten Malealam-Film im Kino zu sehen. Mein Kreuz vergönnte mir nur die erste Hälfte des Streifens. Doch anstatt es zu bedauern, muß ich - um die Wahrheit zu sagen - eingestehen, dass ich selten noch so einen schlechten Film gesehen habe.

14.4.1996

Was mich antrieb war die Neugier, eine täuschungsvolle Vorstellung, ein lieblich trügerisches Hirngespinst. Es ist die harte Schule der Realität, die Prüfung am Material, die uns die Augen öffnet und Phantasie und Realität in einem neuen richtigeren Bild des Geistes synthetisiert.

Die babylonische Barriere der Sprache, das ist die eigentliche Geisel der Menschheit, das größte Hindernis.

... Oh Indien, was kannst Du dafür, dass Du mir nicht das geben kannst, was ich selbst bin. Verzeih mir, dass ich Dich so ungerechter Beurteilung unterziehe. Wehre Dich doch gegen meine Forderung, Dich rechtfertigen zu müssen, dass Du anders bist als ich. Schlag diesen selbst ernannten Richter in die Flucht, der zu richten sucht, wo es nichts zu richten gibt.

 

14.4.1996

Der Großteil der Inder geht den Weg, sich Befriedigung dadurch zu schaffen, dass Sie sich mit dem abfinden, was Ihnen Tradition, Gesellschaft und Kaste zuteilen, während wir diese oftmals durch das Streben nach immer mehr suchen.

 

15.4. 1996

... So weit hat er sich mir geöffnet, dass ich sehen durfte, Negatives und Positives. Ist das nicht Vertrauensbeweis genug, ja ist das nicht ein echter Freundschaftsbeweis? Ich danke Gott, dass er mir heute am vorletzten Tag in Indien die Augenbinden abgenommen hat.

 

17.4.2015

Ankunft in Frankfurt. Als ich und meine Mitreisenden mit dem Flughafenbus zum Transfer-Terminal gebracht werden, fällt mir auf, dass die Air India-Maschine, die uns sicher nach Deutschland gebracht hat, im Vergleich zu den anderen Maschinen einer Schrottkiste gleicht. In der Ankunftshalle erwartet mich ein Flughafenmitarbeiter mit dem bestellten Rollstuhl, den ich dankend ablehnen kann. Je näher ich der Heimat komme, desto kleiner werden die Kreuzschmerzen! Wie ist das zu verstehen? 



* Text im Rückblick verfasst

** Das Tagebuch ist hier nur in kurzen Auszügen wiedergegeben