Die Ziege aus der Asche

Reisende wollen Leben wie Gott in Frankreich. Im Loire-Tal kann man dies visuell und kulinarisch realisieren.
9. 2007
 
Das Loiretal, mit seinen berühmten Schlössern, ist so etwas wie das Urbild eines Reisezieles. Im Urlaub will man wie Gott in Frankreich leben. Wo könnte man sich dieser Illusion näher fühlen, als bei den Schlössern und Burgen der französischen Könige. Freilich können wir uns nur noch mit den Augen an der verschwenderischen Ästhetik dieser Bauwerke laben. Darin zu wohnen wäre auch im Urlaub kaum reizvoll, bietet heute selbst die einfachste Unterkunft mehr Komfort als das schönste Schloss. Anders verhält es sich im kulinarischen Bereich, da ist es durchaus möglich - wenn auch nur im übertragenen Sinn - vom Teller der Könige zu kosten und aus deren Bechern zu trinken.

Der beliebte französische König Heinreich der IV. hat die Demokratie kulinarisch vorweggenommen, als er als politisches Ziel verkündete: "Jedem Franzosen sonntags sein Huhn am Tisch". Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Frankreich dieses "politische" Programm bis zum heutigen Tag lebt und dass solche Äußerungen der Herrscher nicht unwesentlich zum frühen revolutionären Geist im Land beigetragen haben. Die Franzosen haben die Revolution und in ihrem Gefolge die Demokratisierung des Landes also nie nur politisch verstanden; sie haben sie immer auch kulinarisch gelebt. Nicht von ungefähr befürchtet man politische Verwerfungen im Lande, würde man beispiels-weise Weinpreise durch Steuern zu stark erhöhen. Luxus muss leistbar bleiben, das gehört zum Demokratieverständnis in Frankreich.

Betrachten wir die französische Fixiertheit auf den Gaumen nun unabhängig von demokratie-politischen Überlegungen. Bei einer Reise durchs Loiretal merkt man Sie unter anderem daran, dass de facto in jedem der unzähligen Chateaus die Schlossküche eine zentrale Sehenswürdigkeit ist. Leider gibt es dort nichts mehr zu riechen und zu kosten und so fragt man sich, wie man die kulinarischen Vorlieben der Aristokratie von damals am besten nachvollziehen könnte. Das System von Vollpension oder "all inclusive", das Urlaube möglichst entspannend und luxuriös machen soll, mag zwar royal anmuten, doch besser kennenlernen und verstehen kann man das lukulische Wesen der Loire, wenn man das infrastrukturelle Umfeld der Schlösser in Augenschein nimmt und sich die Kochschürze trotz verdienten Urlaubs umbindet.

Viele Spezialisten, Kenner, Könner und Fachleute auf dem kulinarischen Sektor waren einst nötig, um die Könige samt Gefolge zufriedenzustellen, ein noch viel größeres Heer ist heute im Einsatz, um die anspruchsvollen Gaumen einer ganzen Nation zu befriedigen: Da ist der Fleischhauer von Loches, der einem das beste Stück vom Rind offeriert oder der Standler von Langeais, der seine wunderbare „Saucisson aux noisettes“ bescheiden aber überzeugend feilbietet. Da ist der Cavist von Chinon, der den passenden Wein zum geplanten Abendessen empfiehlt, während die Bäuerin von Blois, die die Ziegenmilch gekonnt zur berühmten Käserolle verarbeitet. Da ist der Kellermeister von Vouvray, der die Flasche Sekt gekonnt mit einem Ruck um einige Grade dreht ....

Verdichtet – gewissermaßen zusammengefasst - findet sich das Angebot der Gaumenfreunden des Loiretals in Tour – der einstigen Wirkstätte des heiligen Martins. Die Stadt gilt als das kulinarische Epizentrum Frankreichs. Dort lohnt sich ein Besuch in den „Halles“. Die riesige Markthalle bietet eine unüberblickbare Fülle und Vielfalt an Essbarem und spiegelt so die Fruchtbartkeit des Tals sehr eindrucksvoll. Unser hungriges Auge bleibt an einer bunten Auswahl von Bratwürsten hängen. Der Fleischhauer hinter der Theke strahlt vor Freude, als wir all seine Artefakte auch ohne vorherige Erfahrungswerte unerschrocken zu testen gewillt sind. Die abendliche Würstelverkostung in unserer Unterkunft wird zu einem außergewöhnlichem kulinarischen Erlebnis.

Unter dem Eindruck des berühmten Huhnsagers Heinrichs des IV. versteht man auch besser, warum Frankreich zum Gefügelparadies avancierte. Neben allerlei Wildgeflügel beeindruckt vor allem die Vielfalt an gemeinen Haushühnern. Da gibt es kleine und große, magere und fette, in allen möglichen Hautfarben, ja sogar blaufüssige Ausführungen wie das berühmte "Poulet de Bresse". Auf französischem Boden haben Rassen überlebt, die man neben dem hiesigen Einheitshuhn vergeblich sucht. So tragen französische Geflügelesser durchaus zur Aufrechterhaltung der Artenvielfalt bei.

Auch im Loiretal kommt am Thema Käse nicht vorbei. In den Supermärkten zählen die Abteilungen für dieses Milchprodukt zu den größten. Die Auswahl kann so reichhaltig sein, dass man über ein Jahr brauchen würde, um das gesamte Angebot zu verkosten. Man spricht von etwa 400 Käsesorten in Frankreich. Eine rangiert im Loiretal ganz oben. Es ist der "Fromage de Chevre" - Käse aus roher Ziegenmilch, der in vielen Geschmäckern und Formen gefertigt wird und zumeist in einen Mantel aus Holzkohlenasche gehüllt ist. Stolz wird diese lokale Spezialität in Sondervitrinen präsentiert.

Viele Loire-Franzosen haben ihren eigenen Hauswein. Den beziehen sie direkt vom Winzer in der Nachbarschaft. So auch Madame Tohier - unsere Vermieterin der idyllischen Bergerie "Le Chene Vert“ nahe Blois. Etwas kulturlos wird der vergorene Traubensaft in Plastikkanistern geholt, weil der Winzer den Wein nicht in Flaschen abfüllt. Dennoch ist es ein sehr guter Tropfen, der nicht nach Plastik sondern nach Trauben und vor allem nach mehr schmeckt. Beinahe jeden Tag finden wir auf unserem Küchentisch ein Flasche davon als Gruß des Hauses "Zur grüne Eiche". Soviel zur französischen Gastfreundschaft.

Im Loiretal liebt man die Vielfalt, die sich am geschmacklichen Finessenreichtum der Lebensmittel zeigt. Vergleichsverkostungen machen dort an allen Lebensmittel-Segmenten Sinn, weil es für jedes Produkt viele, vor allem viele kleine Erzeuger gibt. Jeder Produzent versucht seinem Erzeugnis eine ganz eigene, individuelle Note zu verleihen. Dabei stellt man freilich auch fest, dass nicht alles gleich gut ist und man sich aufgrund der unüberschaubaren Vielfalt durchaus zur Qualität – Weine sind hier ein gutes Beispiel - durchkämpfen muss.

Auf unserer Tour lassen wir auch das Chauteau Villandry nicht aus. Es ist das schönste Beispiel dafür, wie eng Baukunst und Kulinarik im Zeitalter der Könige verbunden waren. Während man im Gebäude durch extravagant ausgestattete Zimmer schlendert breitet sich draußen das Juwel eines barocken Gemüse- und Kräutergartens aus. Erbauer Jean le Breton, Finanzminister unter Franz I., hat dort eine der weltweit originellsten Gartenanlagen erschaffen. Als wir die Anlage schon verlassen wollen, kehren wir nocheinmal kurz um, weil wir uns erinnern, dass wir noch einen Zweig Estragon für unser Abendessen brauchen.