17 Stunden der surrealen Art 



Mit der Frachtfähre über das Kaspische Meer
2012
 

„Der Kapitän schläft“, sagte der Koch. Einfach eingenickt. Nicht am Steuerrad. Auch nicht in seiner Kajüte. In der gemütlichen Kantine ließ er den Kopf hängen. So müde hätte er ihn noch nie gesehen, sagte der Koch. Am Ende trugen zwei Männer den obersten Steuermann ins Schlaflager.

Müde war er vielleicht wirklich. Gewiss aber sternhagelvoll. Offenbar ein paar alte Bekannte nämlich hatten die kleine Frachtfähre zur Überfahrt über das Kaspische Meer von der turkmenischen Hafenstadt Türkmenbaşy in die aserbaidschanische Hauptstadt Baku gewählt. Selbst ein Manager eines großen Gaskonzerns, wie man sie in dieser Weltgegend nicht selten antrifft, war unter ihnen. Eine Erzählung gab die nächste, eine Flasche Wodka die weitere. In Zeiten des Autopiloten keine Katastrophe. Zumal es windstill war und das Schiff selbst – unter der Aufsicht des Co-Kapitäns – wie im Schlaf über das Wasser glitt.

Etwa vier Stunden vorher waren wir an diesem warmen Spätfrühlingstag in See gestochen. Es hätten auch acht oder zehn Stunden früher sein können, oder einen Tag später. So genau weiß man das in Türkmenbaşy nie. Einen Fahrplan gibt es ganz einfach nicht. Seine Frau sei den ganzen Tag zu Hause, von wo sie einen Blick auf das Meer hätte und sagen könne, wann die nächste Frachtfähre ankomme, hatte mir ein turkmenischer Taxifahrer hilfsbereit gesagt: Er werde mich anrufen, sobald sie es ihm mitgeteilt habe.

Das hat er am Ende auch getan. So gelangte ich auf dieses Schiff, dessen Überfahrt für mich und die und das restliche Dutzend Fahrgäste zum einzigartigen Erlebnis an der Grenze zum Absurden und Surrealen werden sollte. Wieso ich mich denn hier als Österreicher herumtreibe, wollte ein Crew-Mitglied wissen. Es sei ihm zumindest verdächtig. Ein anderer, Mitglied des aserischen Grenzschutzes, wollte nicht darauf verzichten, eine meiner Zigarillos zu probieren, die er unbedacht inhalierte, ehe er einen Hustenanfall bekam. Im Übrigen, sagte er, im Übrigen solle ich mir nichts mit den zwei turkmenischen Mädchen an Bord anfangen – die kenne er längst, Prostituierte seien es, die auf dem Weg in ein arabisches Land seien, wo sie gut verdienten. Offenbar hatte man mich beobachtet, als ich mit den beiden kurz zuvor im Smalltalk an Deck stand, wo uns der Wind um die Ohren blies. Später sah ich den betrunkenen Gasmanager in ihre Kajüte gehen. Eigentlich wollte er mit mir einen Wodka nehmen, wie er zuvor gesagt hatte.

Das machte ich dann alleine. Nachdem der Kapitän schon in sein Schlaflager getragen war, bestellte ich mir 250 Gramm vom klaren Gesöff zum köstlichen Essen, ehe ich mich irgendwann vor oder nach Mitternacht in meine karge Kajüte schlafen legte.

Dass ich mich überhaupt auf diese Fahrt eingelassen und keinen Flug für die Rückreise genommen hatte, hatte eigentlich einen prosaischeren Grund, wiewohl nicht ganz ohne Poesie. Viele Jahre hatte auf dieser Fährenroute der Traum der Europäischen Union und Turkmenistans gelegen, mit einer Gaspipeline durch das Meer miteinander verbunden zu werden. Die EU lechzte nach alternativen Gasquellen jenseits des dominanten Russland. Und Turkmenistan, das geheimnisvoll diktatorische und dünn besiedelte Land mit den viertgrößten Gasvorkommen der Welt, hätte sie. Zur Pipeline ist es freilich bis heute nicht gekommen, weil andere Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres sich aus eigennützigen Motiven dagegen wehren. Dabei wäre es ein Katzensprung zwischen Türkmenbaşy und Baku. Lächerliche 300 Kilometer trennen hier den europäischen Kontinent von Zentralasien. 17 Stunden Fahrzeit mit einer kleinen Frachtfähre.

Es war Vormittag, als wir die Silhouette Bakus im Dunst des Meeres zum ersten Mal ausmachten. Der Kapitän wirkte erstaunlich fit. Der Manager in seiner Krawatte wieder solide. Mit dem skeptischen Crew-Mitarbeiter tauschten wir die Kontaktdaten. Und die zwei jungen Frauen strahlten Lebensfreude aus. Der Tag in Baku ließ sich gut an.