Das Phantom einer Stadt

Beirut zwischen Ausnahmezustand, Normalität und Boom.
03. 2015
 

Die Reise beginnt spätestens am Istanbuler Flughafen, vom Terminal, von dem aus wir nach Beirut weiterfliegen, starten Flüge in Städte, deren Namen ich noch nie gelesen habe und von denen ich nicht sagen kann, in welchen Ländern sie liegen. Man wird also sehr schnell mit dem eigenen Eurozentrismus konfrontiert. Der Ḥaddsch hat begonnen, es ist März, am Flughafen Gruppen von Männern in Badeschlapfen, der Vorschrift nach in zwei weiße, ungesäumte Tücher gekleidet. Während des Haddsch werden sie sich weder rasieren, noch kämmen, noch Haare oder Nägel schneiden, die Frauen sind nicht voll verschleiert und tragen keine Handschuhe. Die Wege zu den letzten verbliebenen Raucherplätzen werden immer länger, die Terrassen oder schlecht belüfteten, gefängnisgleichen Kabinen immer überfüllter. Das letzte Mal war ich in den frühen 1990ern in Istanbul, der Flughafen scheint jetzt mindestens dreimal größer zu sein. Angesichts der Mischung aus vorderasiatischen und nordafrikanischen Kulturen auf diesem Flughafen erscheint der prätentiöse Anspruch Wiens, eine Drehscheibe in den Osten sein zu wollen, bestenfalls anmaßend und eigentlich komplett verfehlt. Der Osten Wiens endet dann doch irgendwo in Osteuropa und dass Europa so seine Schwierigkeiten mit der Türkei hat, die Türkei möglicherweise noch gravierendere Schwierigkeiten mit sich selbst, wird dieser Tage wohl hinlänglich klar. Aber im März 2015 war das Klima nicht annähernd so angespannt wie jetzt, im Sommer 2016, und auch die Ankunft am Beiruter Flughafen ist entspannt, die Sicherheitsvorkehrungen überraschend lapidar, es ist nicht annähernd soviel Militär anwesend wie am Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv.


Auf die sichere Seite

Eine rasche Taxifahrt durch den Süden der Stadt, Hisbollah-Gebiet, die sich dieser Tage im März 2015 selbst Anschlägen von Anhängern von Daesh ausgesetzt sehen, da sie an der Seite Assads kämpfen. Und so wird uns abgeraten, diese Gegend zu besuchen, weshalb der weiße Fleck derjenigen Gebiete, die wir in Beirut gar nicht zu Gesicht bekommen werden, den Großteil der Stadt überziehen wird. Die kleine, von Franzosen geführte Villa, in der wir für ein paar Tage wohnen werden, liegt in christlichen Ostteil der Stadt, im Stadtteil Remeil, in einer Seitenstraße der Armenia Street, in Al Hikmat. Wir sind von Bars und kleinen Geschäften umgeben, es wirkt teilweise wie eine Miniaturausgabe von Berlin, allerdings ist das Stadtbild noch gravierender von Brüchen durchzogen als Berlin: kleine Stadthäuser aus den 1950er und 1960er Jahren wechseln mit neuen, postmodernen Gebäuden, dazwischen immer wieder leerstehende Gebäude, Baustellen, ehemalige Verwaltungsgebäude aus den 60ern wie das Electricite du Leban, dazwischen Wohntürme und zugleich infernalischer wie entspannter Verkehr, die Grand Brasserie du Levant ist eine Ruine. Wir werden ständig von Taxis angehupt und derart gefragt, ob wir mitfahren wollen. Es wird uns davon abgeraten, weil die verlangten Preise zu hoch sind. Wir wechseln dummerweise libanesische Pfund, und bekommen als Wechselgeld ständig eine Mischung aus Dollar und Pfund retour, was es nahezu unmöglich macht einzuschätzen, ob man überhaupt die entsprechende Summe zurückbekommen hat. Doch wirkt alles irgendwie vertrauenerweckend und wir haben nicht das Gefühl, jemals betrogen worden zu sein.

 

Privatisierung des Zentrums

Unser Vortrag ist erst in zwei Tagen und so erkunden wir ein wenig die Stadt zu Fuß, zunächst Richtung Gemmayze und Najmeh, über den zentralen Platz der Stadt und in den neuen Soukh. Nach dem Bürgerkrieg zwischen 1975 bis 1990 wurden rund 80% der Gebäude der Stadt abgerissen und neu gebaut. Das neue Stadtzentrum wurde maßgeblich vom Unternehmen Solidere des 2005 bei einem Bombenattentat ums Leben gekommenen Ministerpräsidenten und Multimilliardärs Rafiq al-Hariri neu bebaut, was einer Privatisierung der wichtigsten Teile des ehemaligen öffentlichen Raumes in Beirut gleichkam. Auch im März 2015 ist die Stadt noch eine riesige Baustelle, kein Bild kann ohne Baukräne aufgenommen werden, die Küste im Norden der Stadt wird erweitert, an der berühmten Corniche ragen zahlreiche Wohn- oder Hoteltürme in den Himmel, genau lässt es sich nicht sagen, denn ein erheblicher Teil der Gebäude steht leer, obwohl der Großteil der Wohnfläche verkauft ist, Investorenarchitektur – wie uns erzählt wird, fließt viel Geld aus den Golfstaaten nach Beirut. "Die Zerstörung Beiruts hat Tradition", schrieb einmal der palästinensische Künstler Akram Zataari. Die Stadt wäre zweimal zerstört worden, während des Bürgerkriegs und während des Wiederaufbaus. An jeder Ecke stoßen so quasi Monumente aus ganz unterschiedlichen Zeiten aufeinander, der Weg von einem Gebäude zum nächsten führt oft durch mehrere Jahrzehnte der turbulenten und widersprüchlichen Geschichte der Stadt, jeder Wechsel der Straßenseite gleicht mitunter einer Zeitreise.

 

Ein Loch als Denkmal

Am nächsten Tag versuchen wir, zum Nationalmuseum per Taxi zu fahren; erstens haben wir nur große Scheine libanesische Pfund, also fährt der Taxifahrer zuerst zum Tanken und gibt uns dann das Wechselgeld zurück; zweitens, er hat keine Ahnung, wo das Nationalmuseum ist. Die Orientierung in Beirut erfolgt nicht nach Straßennamen oder gar Hausnummern, sie bezieht sich auf jeweils lokale Landmarks, das kann eine Tankstelle sein, ein Markt, eine Haltestelle, was auch immer, was in einem bestimmten Teil eines bestimmten Viertels am längsten besteht; wenn es abgerissen wird, wird ein neuer Orientierungspunkt erkoren. Wir erkennen das Museum schließlich an seiner Architektur und steigen aus, gegenüber eines Ministeriums, vor dem der Verkehr durch Betonleitschienen verlangsamt und vom Militär kontrolliert wird. Im Museum selbst suchen wir zuerst das berühmte Wandmosaik, in das ein Heckenschütze ein Loch geschlagen hat, um die Green Line, die Grenze zwischen Christen und Moslems während des Bürgerkriegs, besser und vor allem geschützt ins Visier nehmen zu können. Das Loch wurde quasi als Denkmal nach der Restaurierung des Museums erhalten. Dass überhaupt etwas zu sehen ist im Museum, ist dem Direktor während des Bürgerkriegs zu verdanken; er hatte die wichtigsten Statuen in Holzkisten verpackt und diese wiederum mit Beton umgossen, damit sie den Bombardierungen standhalten In einigen Vitrinen sind Sammlungsstücke zu sehen, die nicht diesen Schutz erhielten, geschmolzenes Glas, Klumpen von nicht identifizierbaren Materialien. Das Museum brannte völlig aus.


Es begann als „Hotelkrieg“

Von dort spazieren wir also die ehemalige Green Line entlang. Immer noch finden sich Ruinen voll mit Einschusslöchern aus dem Krieg, dazwischen verheißungsvolle Stadtentwicklungsprojekte und unfertige Hochhäuser. Es wurde uns erzählt, dass der Bürgerkrieg auf den Dächern der großen Hotels begonnen hat, weil man von dort aus bequem in die Stadtviertel der jeweiligen Gegner schießen konnte. Noch heute ist das ehemalige Holiday Inn eine riesige Betonruine, nicht weit davon wird das neue Hilton gebaut, noch unfertig sehen sich die beiden Hotelkomplexe zum verwechseln ähnlich. Das neue Hilton wird in jener Gegend erbaut, in der viele Politiker wohnen, so auch die Familie al-Hariris. Wir werden dort das einzige Mal während unseres Aufenthaltes in der Stadt von einem Mann angesprochen, dass das Fotografieren hier verboten sei …

Iconic City

Das ehemalige Stadtzentrum wird gerade bebaut, dazwischen eine Betonruine, in sphärischer Form. Wir erfahren, dass es sich um ein Kulturzentrum handelt und das übgrig gebliebene Betonei das Kino hätte werden sollen, es wurde aber nicht mehr fertiggestellt und der Bürgerkrieg begann. Teile wurden bereits abgerissen, aber das Kino steht noch … noch. Daneben türmen sich straßenzuglange 20-geschossige Neubauten, noch nicht ganz fertig. Solidere. Bauzäune verkünden die Iconic City – The Cradle of Civilization, Iconic Design by World Renowned Architects, Iconic Retail Brands und Iconic Views der Plus Towers. An anderer Stelle, entlang der Green Zone, entsteht Phoenix 2526.

 

Corniche - entlang an der arabischen Riviera

Am Tag nach unserem Vortrag spazieren wir den ganzen Tag viele Kilometer die Corniche entlang, beginnend bei den berühmten Raouche Felsen nach Süden, vorbei am Mövenpick Ressorts und wieder zurück über die Charles Helou bis zur Armenia. Ein paar japanische Touristen sind mit uns die einzigen Nicht-Araber an diesem Tag auf der Corniche, Autoradios dröhnen, uns wird erzählt, dass man die syrischen Flüchtlinge* an ihrer Kleidung identifizieren kann, die Beiruties sind natürlich internationaler und urbaner, und überhaupt gibt es die beste Küche der Region in Beirut. Im Hintergrund sieht man die schneebedeckten Berge Richtung Bekaa, wo man schifahren kann, die Lifte stammen vom österreichischen Hersteller Doppelmayr. Das Hotel Riviera Beirut bekam einen hässlichen Anbau, nicht weit davon Richtung Westen entsteht der neue Al-Riyadi-Club. Unseren gesamten Spaziergang werden wir höflich ignoriert und da die Corniche im arabischen Westteil der Stadt liegt, gibt es in den Cafes in bester Lage keinen Alkohol zu trinken.

 

Von Widersprüchen, skulpturalen Wellenbrechern und unaufhaltsamem Wandel

Am Beginn der Charles Hebdou steht die Majidiyeh Mosque, direkt neben einem Kinopalast und davor der von New York ausgeborgte bunte Schriftzug I Love Beirut, mit einem Herzen anstatt des Wortes Love; im Hintergrund ist ein leerstehendes Gebäude zu sehen und nicht weit davon, im Bereich der neuen Küstenentwicklung, die temporäre Beirut Exhibition Hall. Irgendwie drängt sich an diesem Ort alles zusammen, was die Widersprüche und die Ambivalenz der Stadt ausmacht. Im Einkaufzentrum nebenan gibt es einen kurzen Red Carpet, auf dem Kinder ihren ersten Catwalk absolvieren, gleichzeitig ertönt von der Moschee der Ruf des Muezzin und die Medienfassade des Kinos gegenüber schickt ihre Lichtbotschaften in den nahenden Abendhimmel. Sind wir ein einer arabisch-europäischen Mittelmeerstatt, oder einer europäisch-arabischen? Gegenüber der Ausstellungshalle wiederum werden auf einem fussballfeldgroßen Areal Wellenbrecher gelagert, wie eine gigantomanische künstlerische Intervention im öffentlichen Raum. Zuerst sahen wir diese zu Hunderten gelagerten Betonskulpturen auf der kleinen Halbinsel, die dem Raouche-Felsen vorgelagert sind. Palästinenser feierten dort ein Fest, geschmückte Esel und verführerischer Duft von Gegrilltem. Dort wurden wir das einzige Mal während unseres Aufenthalt von einem Jungen angebettelt, über einem Hügel folgt dann das Mövenpick-Ressort, Swimming Pools, Sonnenschirme, das ganze Programm. Zurück in der Armenia trinke ich Beirut-Bier, esse köstliche Nüsse dazu und auf der Rückseite des Notebooks vom Kellner klebt der Slogan: Save Beirut Heritage. Nach dem wenigen, dass ich von Beirut gesehen und erzählt bekommen habe traue ich mir dennoch zu behaupten, dass dieser Wunsch nicht in Erfüllung gehen wird. In wenigen Jahren wird die Stadt bereits wieder völlig anders aussehen.



* Im März 2015 suchten bereits nahezu eine Million syrische Flüchtlinge im Libanon Schutz vor dem Bürgerkrieg. Der Libanon selbst hat ungefähr sechs Millionen EinwohnerInnen.