Nicht fabelhaft, nabelhaft



Wer im slowenischen Karstgebirge „an der Kante“ vom Dorf Črni Kal nach Hrastovlje wandert, geht nicht von A nach B. Er geht zu sich.
10. 2015
 

Man muss Thomas Bernhards Erzählung „Gehen“ aus dem Jahr 1971 nicht gelesen haben, um den vielschichtigen Wert des Unterwegseins zu Fuß zu erahnen. Man muss es daher auch nicht gelesen haben, bevor man sich zum Fußmarsch „An der Kante“ unweit der slowenischen Hafenstadt Koper aufmacht. In Wahrheit ist nämlich jede geistige Aufrüstung durch Lesen vor einem Marsch, der eigentlich dem Leerfegen des Kopfes dienen soll, von vornherein eher kontraproduktiv. Dass ich Bernhard überhaupt erwähne, hat damit zu tun, dass er mir neulich – über ein Jahr nach dem Marsch „An der Kante“ – in die Hände gefallen ist. Dabei teile ich Bernhards Befund, „alles, was gedacht wird, ist überflüssig“, so ja nicht. Näher kommen wir uns schon, wenn er sagt: „Die Natur braucht das Denken nicht,…, nur der menschliche Hochmut denkt sein Denken ununterbrochen in die Natur hin.“ Und man kann nicht sagen, dass nichts dran ist, wenn Bernhard einen seiner Helden sagen lässt, dass „die Zustände…durch unser Denken naturgemäß … zu immer noch unerträglicheren Zuständen“ werden: „Und mit den Umständen ist es wie mit den Zuständen … und mit den Tatsachen ist es dasselbe.“

„An der Kante“ hinter Koper, beginnend im Dorf Črni Kal, hingegen wird die Wirklichkeit erträglicher, weil die Gedanken durch das Gehen hinausgehen und eine Zeit lang gewissermaßen verschwinden. Eine Einübung in das Verschwinden sozusagen. Dabei ist man von sich selbst nicht weiter weg als vorher. Im Gegenteil: man ist sogar näher an sich dran. „An der Kante“ des Karstgebirges, einige hundert Meter über dem Meeresspiegel mit anhaltendem Ausblick auf das Meer, trifft man so gut wie auf niemanden und geht daher ausschließlich sich entgegen, jedenfalls in die Richtung seiner selbst, stellenweise ganz zu sich und dringt ab und an, wie einem selber scheint, zum wahren Selbst vor, wie die Psychologie das Abstreifen des von außen Aufgehalsten und das Freilegen des Ureigenen nennt.

Wie man das merkt, mag manch einer fragen. Indem man geht. Von Črni Kal mit seinem tatsächlich schiefen Kirchturm auf das Plateau der Felsen hinauf. Über ausgewaschene Steine, alte Bahngleise querend, hoch über dem alten Dorf Podpeč. Später hinunter und hinüber durch das unwegsame Gestrüpp zur Anhöhe mit der einfenstrigen Kirche Sveti Štefan bei Zanigrad. Weiter in das mit seinen 150 Einwohnern erste – und eigentlich einzige – belebtere Dorf Hrastovlje, das ich überhaupt für den Nabel der Welt halte. Nicht nur weil hier, 14 Kilometer östlich von Koper im Flusstal der Rižana die Dreifaltigkeitskirche die berühmten Fresken mit dem mittelalterlichen Totentanz birgt. Auch nicht weil in der benachbarten Gaststätte, der feinen Gostilna Švab, die unbändige Lebensfreude triumphiert. Sondern weil einem nach der Wanderung durch den kargen Karst hier bewusst wird, dass die verschwundenen Gedanken den Weg für eine mehrstündige Nabelschau freigemacht hatten.