Land des Glücks



Wer nach Georgien reist, hat gute Chancen, nicht vom Pech verfolgt zu werden.
8. 2016
 

Schwein gehabt

Eine Reise kann selbst dann, wenn sie von langer Hand geplant ist, oft nur mit viel Glück unternommen werden. Mein erster Besuch in Georgien wäre verhindert worden, wenn ich den schon bereitliegenden Aufkleber „Bitte keine Werbung“ tatsächlich an meinem Postkasterl angebracht hätte. So landete das Prospekt eines bekannten Lebensmitteldiskonters wie immer auf meinem Esstisch. Als ich das Gültigkeitsdatum der Angebote erblickte, wurde mir schlagartig klar, dass ich bereits morgen und nicht erst übermorgen nach Tbilisi würde fliegen müssen. Auch der georgische Gründungsmythus weist als entscheidendes Merkmal ein Glücksmoment auf: Alle hatten ihren Anteil an der Welt bereits bekommen. Nur die Georgier wurden vom Schöpfer ignoriert, haben sich nicht gerührt oder eine Frist übersehen - was auch immer. Als sie schließlich doch urgieren, wird ihnen das Gustostückerl zugesprochen.


Licht und Schatten

Das Selbstverständnis der GeorgierInnen gründet also auf einem besonderen Glücksfall oder  einer Form von positiver Auserwähltheit. Und doch spricht Vieles in Vergangenheit und Gegenwart dagegen: Lange Gewaltherrschaft der Sowjets – durch einen Mann aus dem eigenen Volk bis zur Perversion getrieben; danach ein blutiger Bürgerkrieg; verfestigte Mafiastrukturen; erneut ein Krieg, diesmal mit dem dominanten Nachbarn Russland, der die  mühsam in die Gänge gebrachte Wirtschaft niederwirft und mit der Okkupation von Südossetien einen Keil in die territoriale Integrität des Landes treibt.

Aber bei all dem Negativen wiederum zahlreiche Glücksfälle: Georgien gelingt, wovon andere Länder – auch „westliche“ – oft nur träumen können. Die Mafia ist heute praktisch „ausgerottet“, die Polizei weitgehend korruptionsfrei, die öffentliche Verwaltung in einer Weise kundenfreundlich, die staunen macht, und Georgien gilt heute als eines der sichersten Länder der Welt. Man kann dies natürlich als partielles Glück im Unglück sehen, denn das Land hat nach wie vor zahlreiche Probleme: Armut, schlechte Gesundheitsversorgung, eine am Boden liegende Industrie, ein lückenhaftes Bildungssystem, eine zu kleinteilige Landwirtschaft, die sich in der Provinz unter anderem daran zeigt, dass die Bauern mit ihrem bescheidenen Grund und Boden höchstens sich selbst versorgen oder allenfalls den Überschuss am Straßenrand verkaufen können. In der Hauptstadt Tbilisi hingegen zeigt sich das Fehlen überschüssiger Ressourcen am drohenden Verfall ganzer Altstadtviertel. Nicht selten müssen historisch wertvolle Häuserfronten durch massive Strahlträger gegeneinander abgestützt und so vor dem Einsturz bewahrt werden. Wann sie nachhaltig gerettet werden können steht in den Sternen.


Der Tourismus-Motor läuft an

Zum Glück  - für Georgier ebenso wie für potentielle Touristen - sprechen sich die vielen Reize, die das Land zu bieten hat, langsam aber sicher herum. Für die Nachbarn war die Kaukasusrepublik immer schon Urlaubsziel. Selbst RussInnen wagen sich nach der jüngsten militärischen Auseinandersetzung wieder ins „Feindesland“. Das deutet darauf hin,  dass Georgier nicht sonderlich nachtragend oder vielleicht einfach nur geschäftstüchtig sind. Aber auch der Rest der Welt zeigt steigendes Interesse. Die touristische Formel liegt im Spagat zwischen Natur und Kultur.


Weinbau einst und jetzt

Georgien ist zwar ein kleines Land, hat aber eine beachtliche landschaftliche Vielfalt aufzuweisen. Beginnen wir im Osten, in Kachetien. Im sehr breiten, ultraflachen Alasani-Tal hat die önologische Landwirtschaft ihren fruchtbringenden Boden gefunden. Weinliebhaber können hier eine Entdeckungsreise in die Frühzeit des Weinbaus antreten. Aber auch moderne Kellertechniken haben längst Einzug gehalten. Sie entwickelten sich als Reaktion auf den russischen Wein-Boykott im Zuge des Südossetienkonflikts, als Georgien gezwungen war, neue Absatzmärkte zu suchen, und Weine für den westlichen Geschmack zu produzieren begann. Auf einem bewaldeten Ausläufer der Bergkette, die die Grenze zu Dagestan bildet, blitzt die alte Klosteranlage Nekresi hervor. Mit atemberaubendem Blick wachen die Mönche hier über einen der ältesten Weingärten der Welt.


Pure Kontemplation

Fährt man in den Süden wird es immer trockener, kilometerweit folgt man einer Grassteppe, die sich stets ähnlich zeigt und doch nie eintönig wird. Ein Meer an karger Schönheit breitet sich vor dem Auge aus. Meter um Meter wiegt sich unser Fahrzeug durch die sanften Wellen der Landschaft, dolinenartige Einbuchtungen mit etwas üppigerem Bewuchs stellen einen Moment der Erotik bereit. Nur selten begegnet man Spuren von Zivilisation. Dann und wann grast eine Kuhherde oder hat ein Bienenzüchter seine Stöcke aufgestellt. Genug Zeit steht zur Verfügung, die Landschaft zu verinnerlichen, denn angesichts der unzähligen Schlaglöcher kommt man nur langsam voran. Nahe der aserbaidschanischen Grenze landet man in wüstenartigem Gelände. Schweißgebadet treten wir einen kurzen Rundgang durch die eindrucksvolle Anlage des Höhlenklosters David Garecha an. Doch - wie ein Mönch uns erklärt - soll die anstrengende Hitze des Sommers nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Natur im Winter hier noch unerbittlicher sein kann, wenn der eisige Wind in jede noch so kleine Ritze kriecht. Auf der Rückfahrt wird unser Geländewagen fünf Minuten zum Taxi für zwei müde georgische Soldaten, die mit entmagazinierten Kalaschnikows in Händen von ihrem zermürbenden Grenzeinsatz erzählen.


Hoch und immer höher

Kontrapunkt zu Kachetien ist das Hochgebirge des großen Kaukasus, dessen östliche Flanke man über die georgische Heerstraße erreicht. Bis in allerhöchste Höhen sind die Berge hier mit saftigem Grün bedeckt. Ein Fleckerlteppich aus kleineren Felsbrocken erweist sich bei genauerem Hinsehen als riesige Schafherde, dann und wann reitet ein kaukasischer Cowboy im unwegsamen Gelände. Immer wieder säumen riesige LKW-Kolonnen den Straßenrand. Sie warten auf die Weiterfahrt Richtung Nordossetien, weil ein durch den Klimawandel instabiler Hang des Berges Kazbegi wieder einmal ein Straßenstück lahm gelegt hat. Der große Kaukasus  ist ein Paradies für Hochalpinisten, Kletterer, Wanderer, Paragleiter, Reiter und natürlich auch Schifahrer. So kommt man sich in Gudauri mit seinen Hotel- und Liftanlagen fast wie am Arlberg vor und in Stepanzminda mit Blick auf den über 5000 Meter hohen, ganzjährig schneeführenden Kazbegi, fühlt man sich an ein Bergsteigerdorf wie Sexten in Südtirol erinnert.


Hilfe unter Lebensgefahr

Auf der Rückfahrt Richtung Tbilisi findet unser „georgisches“ Glück in zwei weißrussischen LKW-Fahrern seine Fortsetzung, die im Schweiße ihres Angesichts und unter Lebensgefahr nach einer Panne unseren Reifen wechseln. Als wir besorgt einen der beiden Männer, der gerade beim Versuch, eine stabile Stelle für den Wagenheber zu finden, unter dem Fahrzeug liegt, fragen, ob er denn keine Angst habe, dass ihm das Auto auf den Kopf fällt, antwortet er lapidar:  „Wir sind so viele Weißrussen, da kommt es auf einen mehr oder weniger auch nicht an“. 


Aufarbeitung im Stocken

Wenn man von Tbilisi aus - die einzige georgische Autobahn nehmend - nach Gori aufbricht, kommt man für einen Moment bis auf wenige Meter an Südossetien heran. Die Russen haben diesen Teil Georgiens 2008 nach einer Provokation des damaligen Präsidenten Micheil Saakaschwili okkupiert. Die Grenze wird seither von russischen Panzern gesichert. Als wir die Stelle passieren, protestieren einige Menschen am Straßenrand gegen die Aggression des großen Nachbarn. Einige Tage später erzählt uns eine Georgierin, dass die Russen die Grenze Jahr für Jahr ein Stück zu ungunsten Georgiens verschieben. Das nahe Gori, das 2008 im Zuge der Auseinandersetzung von russischen Einheiten sogar bombardiert wurde, ist aber aus ganz anderen Gründen bekannt: Es ist die Geburtsstadt Josef Stalins. In der Sowjetunion wurde dort zu Ehren des Diktators ein stattliches Museum errichtet, das bis heute existiert. Der gepanzerte Waggon, vom dem aus Stalin den Widerstand gegen Nazideutschland organisiert haben soll, ist dort ebenso zu finden wie sein Geburtshaus. Und eine überlebensgroße triumphalistische Statue des Diktators scheint die Millionen Menschen zu ignorieren, die ihm zum Opfer gefallen sind. Es gab schon mehrmals Versuche, das Museum zu schließen bzw. grundlegend umzugestalten, auch wurde die Statue schon einmal entfernt, dann aber wieder aufgestellt. Der Startschuss für Vergangenheitsbewältigung scheint in Georgien zwar gefallen zu sein, aber sehr weit ist man mit den Bemühungen offenbar nicht gekommen.


Flüssiges „Gold“

Von früh bis spät wird unsere Rundreise vom Mineralwasser Borjomi begleitet. Es gleicht den Flüssigkeitsverlust, den die drückende Hitze verursacht, mit einigen vorteilhaften Nebenwirkungen aus. Das mit Kohlensäure versetzte Wasser bringt die Innereien vom ersten Schluck an zum Rumoren. Damit treten gewisse Probleme, die das Reisen sonst begleiten, in Georgien nicht auf. Wieder ein Glücksfall. Motivation genug, dem Kurort, der schon in der Sowjetzeit gerne besucht wurde und dessen flüssiges Gold damals wie heute ein Exportschlager ist, eine Stippvisite abzustatten. Im Kurpark bildet sich eine Menschen-Traube um den Quellbrunnen, aus dem eine Frau - gekleidet wie eine OP-Schwester - das Wasser in Plastikbechern an die wartende Menge verteilt. Auch wir stellen uns an, trinken, schmecken und begreifen erst in diesem Augenblick, dass es bei Borjomi sich um pure Medizin handelt.


In den Kochtopf geschaut

Beim leiblichen Wohlergehen angelangt, nun einige Worte zur hervorragenden georgischen Küche. Es gibt einige Nationalspeisen. Manche davon - wie das Hühnergericht Saziwi - sind für Feiertage reserviert, andere - wie das Käsebrot Khatschap’uri - isst man in Georgien tagtäglich. Alle Georgier, auch ärmere, leisten sich dann und wann Khinkali. Sie schauen aus wie „Kasnudln“, sind aber mit Fleisch gefüllt und auch in Gaststätten sehr günstig zu haben. Häufige Zutaten der georgischen Küche sind Walnüsse, Granatapfelkerne und frischer Koriander. Gewürzt wird u. a. mit Chmeli Suneli, einer einzigartigen Mischung aus Gewürzen und Kräutern. Georgien ist ein Land am Schnittpunkt zwischen Orient und Okzident. Es ist daher nachvollziehbar, warum diese Würzmischung gerade hier erfunden wurde. Zum Schaschlik, den traditionellen Fleischspießen, wird Adjika gereicht, eine sehr scharfe, äußerst wohlschmeckende Chillipasta. Ein georgisches Mahl wird oft durch Chacha, dem georgischen „Grappa“, abgerundet. Vor allem im östlichen Teil des ehemaligen Ostblocks ist die georgische Küche heute ein Exportgut. Wer etwa in Moskau gut essen will, der geht zum Georgier. Hinzukommt die sprichwörtliche Gastfreundschaft in der Kaukasusrepublik. Nicht selten betritt man in Georgien ein traditionelles Gasthaus und wird dort wie in einer Familie aufgenommen.

 

Der Weg ist das Ziel

Wie schon die Tour nach David Garecha gezeigt hat, lohnt sich der Besuch vieler kultureller Denkmäler Georgiens allein wegen der Anreise dorthin. Ein Beispiel ist die berühmte Höhlenstadt Varzia, die durch einen gewaltigen Felssturz freigelegt wurde. Von Alkahalidze mit seiner frisch restaurierten Festungsanlage aus führt der Weg dorthin am Fluss Mrkvari entlang, an dessen Ufern sich die Vegetation oasenhaft ausbreitet und in so abwechslungsreicher Vielfalt zeigt, dass man seine Augen kaum losreißen kann. 
 

 

Wild, hartnäckig, herzerreißend

Auf dem Weg nach Swanetien in Nordwest-Georgien fährt man wie an der slowenischen Socer viele Kilometer an einem smaragdgrünen, teilweise ungestümen Fluss entlang, der schon den Schatten der Wildheit seines Ziels vorauswirft. Nicht von ungefähr stehen in Swanetien alte Wehrtürme. Durch sie wusste man sich nicht nur vor der wilden Natur des Kaukasus zu schützen, sondern war auch imstande, dem aggressiven Verhalten der in der Region lebenden kriegerischen Völker etwas entgegenzusetzen. Diese Wehrhaftigkeit scheint sich irgendwie in den Genen festgesetzt zu haben und brachte vielleicht auch jenen hartnäckigen Mafiaclan hervor, der von Micheil Saakaschwili nur mit militärischen Mitteln gebrochen werden konnte.

Wenn man Glück hat – ich bin ja mittlerweile überzeugt, dass das bescheidene Glück, das die Georgier immer wieder erlebt haben, auch auf Besucher des Landes abfärbt -, ist man dort plötzlich Teil einer improvisierten Supra, der typischen georgischen Tafel mit ihrer verschwenderischen Speisenvielfalt, ihrer uralten Weinkultur sowie ihren obligatorischen Tischreden; und vielleicht kommt man sogar in den Genuss von swanetischen Volksliedern, die auf der dreisaitigen Banduri vorgetragen, in herzzerreißender Weise das Leben, die Liebe und den Schmerz besingen. Voraussetzung dafür ist freilich, dass man dann und wann bewusst auf den Luxus eines Hotels verzichtet und eine bescheidenere Unterkunft wählt, wie zum Beispiel das Guesthouse von Miranda Lipartiani am Eingangstor nach Swanetien, in Lentekhi.



Zugabe

Der Rückweg aus Swanetien, in das wir nur kurz, viel zu kurz unsere Nase gesteckt haben, nach Tbilisi und damit dem Ende der Reise entgegen fühlte sich wie sonst auch an. Er ist bereits durchsetzt mit etwas Wehmut, weil man weiß, dass es bald heimgeht und ein Garten voller Erlebnisse, die ein unbekanntes Land fast immer bietet, wieder durch die „Wüste des Alltags“ getauscht werden muss. Und doch hält Georgien selbst dann noch eine Zugabe für uns bereit. Etwa 150 Kilometer vor der Hauptstadt hören wir im Auto zwei kurze dumpfe Geräusche. Dieses Mal ist es nicht ein Reifen, sondern der Motor. Mit Überhitzung der „Maschine“ hatten wir während der Rundreise schon öfter zu kämpfen. Dass sie, die übrigens schon mehr als 200.000 Meilen (nicht Kilometer!) auf dem Buckel hatte, erst in der „Zivilisation“ und nicht schon in der einsamen Halbwüste nach David Garecha den Geist aufgab, ist erst der Beginn des Glücks an diesem Tag. Denn kurz nachdem wir auf einem Parkplatz mit zahlreichen Obstständen, und nicht schon irgendwo mitten auf der Autobahn mit Motorschaden zum Stehen kommen und wir die Motorhaube öffnen, um nachzusehen was los ist, hält hinter uns ein Wagen, aus dem ein Mann aussteigt, der uns nach dem Problem fragt. Es stellt sich heraus, dass er bei der Firma Geo Rent Car, also bei jenem Autoverleih arbeitet, von dem unser Wagen stammt. Erkannt hat er uns am Wunschkennzeichen GRC. Ein kurzer Anruf in der Zentrale genügt, und eine Stunde später werden wir abgeholt und bis zum von Lentekhi aus reservierten Hotel gebracht, das wir ansonsten wohl mühsam im Straßendickicht von Tbilisi hätten suchen müssen. Als dann noch die Kaution diskussionslos ausgefolgt wird, ist unser Glück auf dieser Reise perfekt.