Setúbals troianischer Delfin*

Im Juni werden jährlich die besten Beiträge des Troia International Film Festival in Portugal mit dem "Goldenen Delfin" prämiert.
06. 2007
 
"Dieser Ort ist ein Juwel, und niemand kennt ihn", schwärmt Fredi M. Murer, ehe ich ihn zu seinem Kino-Märchen "Vitus" befrage, das kurz zuvor über die Leinwand des Forums Luisa Todi flimmerte. Wir befinden uns in einem Café in der Nähe jenes Kinos, in dem ein Gutteil des Programms des alljährlich im Juni hier stattfindenden internationalen Filmfestivals "Festroia" zu sehen ist. Setúbal heißt dieser an der portugiesischen Atlantikküste gelegene Edelstein. Es scheint so, als ob der Ort wie ein noch unvollständig geschliffener Diamant nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit erregen kann. Vielleicht liegt es daran, dass die Kleinstadt am Mündungsgebiet des Sado-Flusses über ein nicht zu übersehendes Industrieviertel verfügt. Setúbal liegt nur etwa eine halbe Autostunde südlich von der portugiesischen Metropole Lissabon entfernt. Auf dem Weg dorthin überquert man die spektakuläre, mehrere Kilometer lange "Ponte 25 de Abril", die das Mündungsgebiet des Tejo durchquert und auf den halbinselähnlichen Norden der Tourismusregion "Costa Azul" führt. Die Autobahn gibt den Blick auf die umliegende Landschaft noch zögerlich frei, doch man ahnt schon den Zauber, der abseits der Asphaltbänder wartet.

Setúbal, am Südende der Halbinsel gelegen, begrüßt zunächst durch ein gehörig Maß an Urbanität, doch der erste Schritt in das historische Innere genügt, um zu wissen, was Regisseur Murer mit dem "Juwel" meint. Ein sympathisches Häuser- und Gässchenwirrwarr mit eigentümlicher portugiesischer Architektur erschließt sich. Jedes zweite Haus - kaum eines hat mehr als zwei Stockwerke - ist mit den für Portugal typischen, blau gemusterten Azulejo- Fliesen gekachelt. Kein Auto zwängt sich durch die über Jahrzehnte von allerlei Schuhwerk glatt geschliffenen Kopfsteinpflaster-Gässchen. Die Menschen bewegen sich gemächlich, Hektik würde so gar nicht hierherpassen. Nichts wirkt "geschleckt" oder durchkommerzialisiert, wie man es von anderen für Touristen renovierten Altstädten kennt. An manchem Häuschen nagt der Zahn der Zeit, doch man hat keine Eile, etwas wegzuretuschieren. Das Leben darf sich in all seinen Facetten, auch in jenen des Verfalls, zeigen.

Kolonien am Sado

Die Qualitäten dieses Ortes und seiner umliegenden Landschaft wussten schon die Römer zu schätzen - zahlreiche Ausgrabungsorte zeugen von der langen Besiedlungszeit. Neben der Salzgewinnung hatte vor allem der Fischfang stets große Bedeutung. Der Zusammenfluss von Ozean und Fluss (Sado) ermöglicht ungewöhnlichen Fisch- und Meeresfrüchtereichtum. Das wissen auch Delfine zu schätzen. "Es gibt nur zwei permanente Kolonien" dieser Delfinart (Roaz- Corvineiro) in Europa. "Eine lebt vor Schottland und die zweite hier im Mündungsgebiet das Sado", erläutert Ana Isabel Correia, engagierte Tourismusmanagerin der Costa Azul. "Wir können zum Beispiel das Rebarca empfehlen", erklärt man mir im Festroia-Büro auf die Frage nach einem guten Fischlokal. Dort angekommen, wähle ich in Unkenntnis der portugiesischen Fischnamen das erste Gericht auf der Karte und kehre danach jeden Tag zielstrebig an diesen Ort des kulinarischen Hochgenusses zurück, um ohne zu zögern das nächste Gericht in der Liste zu kosten. Als das Rebarca schließlich den unvermeidlichen Ruhetag einlegt, nehme ich kurz entschlossen ein anderes an der Hafenpromenade und werde wieder nicht enttäuscht. Das Kunststück, an sechs von acht Tagen jeweils ein neues Fischgericht in absoluter Spitzenqualität und in unterschiedlichen Lokalen serviert zu bekommen, dürfte für andere Küstenorte nicht leicht nachzuahmen sein. Kein Wunder, dass Frau Correia Beispiele von Fischbekehrungserlebnissen zu berichten weiß.

Ein Glück für Troia

Ein Vergleich mit der viel bekannteren Südprovinz Algarve zeigt die Costa Azul als ruhiges, auf sanften Tourismus angelegtes Ferienparadies, in dem noch lange nicht alles touristisch erschlossen ist. Das ist gar nicht paradox, gibt es doch Touristen, die genau das zu schätzen wissen. Sympathisch klingen da die Worte Frau Correias, die auf die touristische Zukunft angesprochen, versichert: "Wir wollen aus der Costa Azul keine zweite Algarve machen! " Freilich blieb auch Setúbal nicht ganz von Bausünden verschont, als man in den 1970er-Jahren auf der nahe gelegenen Halbinsel Troia "Dubai" vorwegnehmen wollte. Das Projekt blieb in den Kinderschuhen stecken, weshalb es dort heute kilometerlangen, unberührten Sandstrand gibt. Die Natur - repräsentiert durch den Nationalpark Arrabida, durch die Delfinkolonie, den Fischreichtum, seltene Vogelarten, feine Sandstrände und Abschnitte bizarrer Steilküste - ist die eine Facette der Costa Azul und Setúbals. Die andere ist die Kultur mit ihren zahlreichen Festivals. Das Filmfestival Festroia ist davon nur ein - wenn auch ein wichtiges - Event. Doch Kinoliebhaber kommen nicht nur während der neun Festivaltage auf ihre Rechnung. "Die beiden Kinos der Stadt werden das ganze Jahr vom Festivalteam programmiert", erklärt Fernanda Silva - Programmkino 365 Tage also. Und wer den Kinogeschmack der Festroia-Intendantin kennt, der braucht um cineastische Erlebnisse nicht zu bangen.

Schließlich sollte man auch die Nähe zu Lissabon nicht vergessen. Von Setúbal aus ist es möglich, den Bade- und Kultururlaub mit einem Städtetrip zu verbinden, denn die Metropole ist nur einen "Steinwurf" weit entfernt. Als ich mich am Heimreisetag frühmorgens wieder auf der "Ponte 25 de Abril" über den Tejo auf die Hauptstadt zubewege, wundere ich mich, wieso ich die von der noch jungen Morgensonne glitzernde Skyline von Alcântara noch in keinem Film gesehen habe. Wurde da neben Setúbal noch etwas übersehen?



* Dieser Artikel ist in der Standard/Printausgabe/26./27./28.5.2007 erschienen