3.8.2019, Hbf. Wien

ER: Wie immer ist sie zu spät und die falsche Straßenbahn hat sie auch noch erwischt. Aber da, da ist sie endlich, mitten im Gedränge!

Bussibussibussi!

Wie sehr hab ich mich schon gefreut, mit dir gemeinsam diese Reise zu unternehmen! Vielleicht wird das ja wirklich so ähnlich wie damals, als ich mit der Transsib nach Wladiwostok gefahren bin und du vom Baikalsee nach Ulan-Bator!

SIE: Ich freue mich ja auch schon sehr, aber: Bevor es losgeht, müssen wir unbedingt noch etwas zu essen kaufen! Wir wissen ja nicht, was uns da so erwartet! Und nein, eine Wurstsemmel allein wird’s da nicht tun für die nächsten 18 Stunden bis nach Lemberg!

Auf Bahnsteig 10 fährt ein ungarischer Zug ein, dessen beide letzten Waggons, blau bemalt mit der Aufschrift „Liegewagen“ (dasselbe auch auf Ukrainisch) für die Fahrt nach Kiew vorgesehen sind.

Aus diesen Gedanken an die Vergangenheit reißen uns zahllose AsiatInnen, die wohl nur bis Budapest mitfahren wollen.

ER: Naja, die stehen ja alle schon recht brav da an, aber ich, ich geh da jetzt einfach einmal zu dem Schaffner da hin und frag ihn, wo unser Abteil ist. Aha, der schaut ja echt so aus, wie seine Kollegen damals in Russland!

Nach Betreten des Zuges erwartet uns potenzierte Transsib-Nostalgie: enge Gänge, ein für drei Personen angelegtes, doch mit Gepäck recht enges Abteil, das den Geruch der Jahrzehnte unverkennbar deutlich ausdünstet. Wir haben dabei aber noch Glück, da wir zu zweit ein Dreier-Abteil abbekommen haben. Ganz anders ergeht es unseren Nachbarn, einem Bayern mit seinen drei Kindern, dessen Frau allein zum Wandern nach Südtirol gefahren ist. Er möchte zwischenzeitlich seinen Kindern den „Osten“ zeigen. So liegen sie dann – um einiges später – zu viert in einem Dreierabteil, die Kleinste sanft an ihren Papi geschmiegt. Vorab ergibt sich noch vor Erreichen der ungarischen Grenze bei IHR die obligate Frage…

SIE: Vermutlich sieht das hiesige Örtchen denen, die mir schon in der Transsib so manche Verkneifung beschert haben, sehr ähnlich… ja, genauso wie erwartet! Dann schauen wir einmal, wie die WCs in den anderen Waggons so ausschauen… ah geh, ich hätte nie gedacht, dass ich mich über ein ÖBB-WC so freuen kann… leider gibt es das nur bis Budapest…

… von wo aus es nach einem 15-minütigen Stopp in den in der ungarischen Tiefebene gut sichtbaren Sonnenuntergang hinein geht. Wir klappen unser mittleres Bett heraus, dessen Ketten im Gegensatz zu jenen in der Transsib mit Stoff überzogen sind und somit nicht klappern. Das ist dann aber schon so gut wie das einzig Komfortable an den Betten! Auch durchaus gut gemeint ist das Waschbecken im Abteil, das, so wie der restliche Waggon, noch in der DDR in den späten 1970er Jahren entworfen und gebaut worden ist: deutsch-pragmatisch befindet es sich unter der Tischplatte, die jedoch in unserem Fall mit allen möglichen Jausenbeständen und Reiseutensilien belegt – und somit unerreichbar – ist.

Die Gespräche werden allmählich wortkarger und irgendwann schlafen wir trotz all dem Gewackel dann doch ein – dies, ehe wir von einem wirschen Rütteln an der Tür geweckt werden. Mitten in der Nacht sind wir an der ungarisch-ukrainischen Grenze angekommen. Die dort zusteigenden Zöllner beäugen ruhigen Auges unsere Pässe, um diese dann zwecks weiterer Kontrollen in ihre Taschen zu stecken. Das ist uns zu dem Zeitpunkt auch schon egal, sind wir doch eben aus dem Tiefschlaf gerissen worden und das Zugticket ist ohnehin bereits kurz nach Budapest mit dem Schaffner verschwunden… Die nächsten beiden Stunden vergehen mit dem Fahrgestellaustausch für die russische Breitspur, diversen Scheinwerferspielchen und unergründlichen Hämmergeräuschen. Um 3:30 Ortszeit (4.8) spricht ER ein Machtwort und so gehen wir endlich schlafen (übrigens wieder MIT den Pässen).



SIE: Es ist eh schon 7:30, na bravo! ER will anscheinend nicht, dass ich die Jalousien aufmache, aber die Landschaft da draußen würde mich schon sehr interessieren… und schwupp, schon ist sie oben! Wow, cool!

Wir blicken in die grüne Hügellandschaft der Karpaten, eingehüllt in einen Mix aus Nebel und Sonnenstrahlen, der diesem neuen Tag in einem neuen Land besondere Magie verleiht. Hier und da sieht man kleine Bergdörfer verstreut, die friedlich, aber auch etwas verschlafen wirken.

ER: Angesichts dieser romantischen Optik sticht es besonders ins Auge, dass strategische Punkte, wie Brücken und Tunnel, nach wie vor durch bewaffnete Soldaten streng bewacht werden, dies vielleicht, weil die Grenze noch so nah ist.

SIE: Wo ist nun das von der ÖBB in Wien angekündigte Frühstück? Du siehst, es hat sich wieder einmal ausgezahlt, eine ordentliche Jause mitzunehmen! Schau mal, da sieht man immer wieder die rotbehüteten Bahnwärterinnen vor ihren Häuschen stehen, die pflichtbewusst ihre Signalstaberln hochhalten!

Bald darauf verlassen wir die stark mit Riesenbärenklau durchwucherten bergigen Sumpflandschaften in Richtung Ebene, vorbei an der Stadt Stryj, von der es dann nur noch eine Stunde bis Lwiw/Lemberg ist. Dort beeindruckt ein schön renovierter k. u. k.-Bahnhof, der den Ankommenden schon einen Vorgeschmack auf die zahlreichen nostalgischen Ecken dieser wunderschönen, vielverkannten Stadt bietet. Nach einer wortlosen Verabschiedung durch den Schaffner stürzen wir uns in das rege Gemenge am Bahnsteig. Während sich unsere vier bayrischen Freunde auf den Weg zu ihrem Express-Programm (Lemberg in 2 Tagen und dann retour) machen, lassen wir uns auf das bunte Treiben am Bahnhof ein und erleben gleich darauf die Hilfsbereitschaft der ukrainischen Menschen. Im Tourismusbüro am Hauptausgang wird uns freundlich der Weg ins Zentrum beschrieben, wobei wir kurz darauf über die im Umbau befindliche Chaussee vor dem Bahnhofsvorplatz durch ein bazaarartiges Getümmel in Richtung Straßenbahnlinie 1 schlendern, die uns Richtung Zentrum bringen soll. Angesichts des Alters der vorbeischleichenden Wagenmodelle und der auffälligen Schienendeformationen scheint uns dieser Gedanke zwar zunächst etwas weniger realistisch; einmal jedoch an Bord der museumsreifen Bahn angelangt, bieten uns gleich mehrere Personen ihre Hilfe beim Kauf der noch im Centbereich angesiedelten Tickets an – wir sind sehr froh darüber, denn weder sind wir mit der antiquierten Lochmethode zwecks Entwertung vertraut, noch ahnen wir, dass eine gestrenge Pravodnica gleich darauf zu einer Fahrscheinkontrolle schreitet – mit einer allseits kundgemachten Androhung einer Strafe von umgerechnet 5 Euro pro Person (und 2 Euro pro Gepäckstück –sic!) ohne Ticket.

Nachdem wir in dem frisch renovierten Innenstadthotel in der Halytska-Straße (unweit des Hauptplatzes Rynok) unsere Sachen deponiert haben, ist es an der Zeit, sich kulinarischen und kulturellen Genüssen hinzugeben.

ER: Ich denke, als Einstandsjauserl wäre es durchaus angebracht, einen Salo einzunehmen. Von diesem Speck habe ich ja von meinen ukrainischen Bekannten in Österreich schon viel gehört!

SIE: Du kannst mir ja eine Kostprobe abgeben! Reines Fett ist nicht ganz so meins! Ich glaube, ich bin eher für einen Borschtsch zu haben…

Auf der Suche nach einem geeigneten Lokal bleiben wir an allen möglichen Ecken der lebendigen Innenstadt hängen, die uns mit ihrem zentraleuropäischen Charme, der durchaus auch östliche Einschlüsse aufweist, begeistert. Ebenso scheint es den zahlreichen polnischen TouristInnen zu gehen, mit denen wir immer wieder verwechselt werden – spricht man uns doch ständig auf Polnisch an, um uns in ein Puppenmuseum oder ein neu eröffnetes Café zu locken. Noch mehr unserer Aufmerksamkeit erregen die zahllosen StraßenkünstlerInnen, die mit durchaus anspruchsvollen Programmen musikalischer wie darstellerischer Art das nicht nur polnische Publikum erfreuen. So wird das geplante Mittagessen schlussendlich zu einem Abendessen, das nahe der alten Stadtmauer hinter dem Bernhardin-Kloster eingenommen wird, garniert mit reichlich Bier (ER) und Kwas (SIE). Am Abend steigert sich die musikalisch untermalte Stimmung noch weiter; dennoch fallen wir angesichts der Vielzahl an Eindrücken der vergangenen 30 Stunden, die seit Wien – und das mit recht wenig Schlaf – vergangen sind, übermüde ins Bett.

5.8.2019, Lemberg

Ein guter Tag beginnt mit einem guten Frühstück. Unsere Wahl fällt auf das „Café Zuckerniya“, ein programmatischer Name, der auch etwas über den Bezug zur Monarchie, der uns noch an so vielen Ecken dieser Stadt begegnen soll, verrät: Eierspeise, Topfentorte, serviert von adretten Mädels in klassischer Kaffeehaus-Livree (SIE hat etwas zum Essen, ER hat etwas zum Schauen). Ein wenig „östlicher“ ist da schon die Tatsache, dass der Preis der angebotenen Köstlichkeiten nach Gewicht berechnet und die Lieblingstorte des allgegenwärtigen Papstes Johannes Paul II. angepriesen wird.

Solcherart gestärkt beginnen wir unser Vormittagsprogramm, das uns eine Vielzahl an Impressionen, gelagert zwischen sakraler Kunst, zentraleuropäischen Spielereien und lokalen Originalitäten erleben lässt: Spaziergang zum kleinen, aber feinen Armenischen Viertel, weiter in die Unterstadt, wo SIE etwas ganz Besonderes, um nicht zu sagen, Herzbewegendes, entdeckt:

SIE: Schau mal, was da ist! So ein herziger Kuscheltierfriedhof vor dem schirchen kommunistischen Würfel da! Ma, mir kommen gleich die Tränen!

ER: Geh, kein Grund, zu weinen, die Kuscheltiere haben es eh gut da und sind nicht etwa im Mistkübel gelandet!

Wir ziehen über das neu renovierte Onufri-Kloster eine Schleife zur ältesten Kirche der Stadt (St. Nikolas), die uns durch eine etwas verlebte Retro-Passage führt, in der es u.a. tonnenweise gebrauchte Schuhe, aber auch sehr gute Kokoswürfel gibt.

Zurück in der Innenstadt führt uns der Weg über einige Kirchen diverser Konfessionen zum eindrucksvollen Opernhaus, das an einem sehr weitläufigen Platz liegt, der in den neueren Teil der Stadt überleitet. Ganz in der Nähe befindet sich auch ein Markt für lokale Handwerkskunst, der für IHN nun eine ungeplante Pause mit sich bringt.

SIE: Ich geh nur kurz schauen, was die so alles haben!

ER: Ja, ja! Ich setz` mich da halt amal hin und wart` auf dich!

Einer der Marktstände wird von einer 80-jährigen Schmuckbastlerin betrieben, der man das Alter wahrlich nicht ansieht. Charmant entlockt sie IHR ein paar Brocken Russisch, mit dem Ergebnis, dass SIE voll beladen mit (teilweise geschenkten) Geschmückern und durch Gesten zum Ausdruck gebrachten Liebesbezeugungen etwas später zu IHM zurückkehrt.

Nun ist es Zeit für ein gebührliches Mittagessen, das wir in einem Original Wiener Kaffeehaus („Café Wien“) unter den Augen von Kaiser Franz Josef einnehmen. Die flexibel zu verzehrende Nachspeise wird im Flagship-Store des ukrainischen Süßwarenkönigs Roshen erstanden und zwischen den Tatzen einer aus gelber Wolle gestrickten Riesenkatze, die den Vorplatz des Geschäftes ziert, verkostet.

Mit neuer Energie stürzen wir uns in den zweiten Teil des Tages, der weniger der Kultur als weiteren kulinarischen Versuchungen gewidmet ist. Pro forma lesen wir noch einige Informationstafeln an der Stelle der ehemaligen Synagoge im jüdischen Viertel, das, wie alle Teile der Altstadt, mit originellen Lokalen und Geschäften übersät ist. Dergestalt landen wir im 5. Stock des Schokoladenmuseums „Lvivska Maysternya Shokoladu“, um eine Heiße Schokolade einzunehmen, in der der Löffel von alleine stecken bleibt. Um das zu verdauen (?), ist ein in einem Kristallglas servierter Kirschschnaps angesagt, der in einem gut besuchten Laden am Hauptplatz ausgeschenkt wird. Vor Ort befinden sich Mitarbeiter, deren einzige Aufgabe darin besteht, die durch die trinkenden Menschenansammlungen entstandenen Sauereien vor dem Geschäft zu beseitigen. Wir ziehen uns an einen lauschigeren Platz zurück, an einen Brunnen vor dem Rathaus, von wo aus wir die Abendstimmung besonders gut in uns aufnehmen können: leuchtende Luftballons, Blumenmädchen, Drachenverkäufer, Musikanten etc. Der Müdigkeit geschuldet geht es schon wenig später in leichtem Dusel zurück ins Hotel.

6.8.2019, Lemberg

Der heutige Tag ist dem Entdecken touristisch weniger genau erschlossener Stadtviertel gewidmet.

ER: Heute nehme ich meine Prinzessin mit zur Sisi-Kirche, da wirst du aber schauen! Die haben sie wirklich anlässlich eines Lemberg-Besuchs von Kaiserin Elisabeth erbaut!

SIE: Die Anfahrt dorthin wird sicher wieder recht rustikal! In der Straßenbahn tscheppert es ja nicht viel weniger als in den Kutschen, mit denen die Sisi damals gereist ist.

In nicht allzu großer Entfernung von der Elisabeth-Kirche befindet sich die über der Stadt gelegene Sankt-Georgs-Kathedrale, die im Gegensatz zu ersterer Kirche eine größere Nähe zur lokalen Architektur erahnen lässt. Wir wählen den unkonventionellen Zustieg über die Wegspuren an der Hügelrückseite, vorbei an einem Spezifikum des „ehemaligen“ Ostens, einem bereits in die Jahre gekommenen Zirkuspalast. Unmittelbar nach Betreten der Kathedrale erweist sich IHRE Morgentoilette als überflüssig, denn sie bekommt eine volle Ladung Weihwasser ins Gesicht, mit welchem der Priester voller Hingabe die sich zum Morgengottesdienst formierenden Gläubigen besprengt.

Nach diesen zwei sakralen Höhepunkten widmen wir uns den beiden größten Bildungsbauten von Lemberg. Zunächst geht es zu dem am selben Hang gelegenen Polytechnikum, dessen großzügige Anlage an die in Österreich vorzufindenden Universitätsgebäude des ausgehenden 19. Jahrhunderts erinnert. Hier gibt es so viel zu sehen, dass sich schon bald der erste Hunger einstellt und wir studierendenkonform beim lokalen Kebab-Platzhirschen („Kebab Shef“) einen Zwischenstopp einlegen. Das Angebot ist zwar überschaubar, dafür aber in drei Größen erhältlich: Standard – Groß – Riesig (800g), jeweils mit viel Majo und vom Schwein. Solcherart gestärkt geht es zur Hauptuni, die weniger durch ihre Architektur besticht, denn durch ein unverhofftes Wiedersehen. Während SIE sich in den weitläufig verzweigten Gängen des Hauptgebäudes auf die zunehmend dringender werdende Suche nach einem WC macht, läuft IHM der bayrische Papa mit seiner Kinderschar über den Weg, einen befreundeten Uni-Lektor besuchend. Ganz zufällig ist auch noch der ORF vor Ort, der genau diesen Freund zum Interview geladen hat. Um das Programm noch weiter abzurunden, begeben wir uns nun zum auf dem Rückweg liegenden Potocki-Palast, dessen Baustil sehr an ähnliche Bauten in Frankreich erinnert. Vom Garten hinter dem Palast aus, in dem einige skurrile Modelle von Burgen und Schlössern der Region vor sich hin vegetieren, gibt sich ein erster Einblick in ein altes Villenviertel, in dem wir kurz darauf so manche Jugendstil-Blüte, wie z.B. das Hotel „Chopin“, entdecken. Es leitet über zu einem eher „sowjetisch“ anmutenden Straßenzug, von wo aus es nicht mehr weit zu unserem Quartier ist. Dies nützen wir angesichts der zurückgelegten Kilometer für eine kurze Siesta, die aber ohnehin nicht lange andauert, zumal uns die Putzfrau wenig später aus dem Zimmer komplimentiert.

Ihr verdanken wir die zuvor stets versäumte Möglichkeit, einen der kunsthistorischen Höhepunkte von Lemberg endlich im offenen Zustand vorzufinden: Gebannt blicken wir wenig später auf ein Meer von pittoresken Putten und Engeln, die Wände und Decke der Boim-Kapelle zieren. Bald darauf wird uns einmal mehr vor Augen geführt, warum der Zugang zu diesem architektonische Schatz so streng geregelt wird: Massen von polnischen Pilgernden schieben sich am Eingang der Kapelle Richtung Maria-Himmelfahrtskirche, einer der Hauptkirchen Lembergs. Wir lassen uns mit der Masse treiben und geraten in ein Meer von sich bekreuzigenden und beichtfreudigen Menschen, deren Interessen wir augenscheinlich nicht teilen, starren wir doch in der Nähe der Beichtstühle offenbar zu penetrant auf die Wandbilder der Nebenkapellen, sodass uns eine Frau mit fester, östlicher Stimme vertreibt.

Das schreit nach frischer Luft. Wir steigen hinauf zum „Hohen Schloss“, das eher einem Luftschloss gleicht, zumal nur mehr ein kleiner Teil seiner Mauer steht.

ER: Boah, die Wurzeln da über dem Mauerwerk, das erinnert mich stark an Angkor Wat!

SIE: Dass du dich bei all den Wundergestalten noch auf die Mauer konzentrieren kannst! Mit Stöckelschuhen und lediglich breitem Gürtel bekleidet diese Schlaglöcher zu meistern ist wahrlich eine Kunst, sag ich dir! Aber am schrägsten ist wohl noch der Straßenmaler da drüben mit all den Tauben auf seiner Brust!

Von der Aussichtsplattform aus bietet sich ein wunderschönerAusblick über die ganze Stadt, den aber auch hier zu viele Menschen auf einmal genießen wollen; also verweilen wir hier nur relativ kurz und bummeln auf anderem Wege zurück ins Stadtzentrum. Da das vormittägliche Kebab nun bereits verdaut und das Angebot an skurril benannten Lokalen überproportional groß ist, machen wir einen Stopp bei „Tante Sophie“, das sich jedoch als Schnecken-Spezialitätenrestaurant herausstellt. So ziehen wir weiter, wobei ER sich schließlich mit einer Portion original ukrainischer Spaghetti begnügt und SIE noch auf etwas mehr Lokalkolorit wartet. Visuell gibt es hiervon besonders viel rund um den Neptunbrunnen, der, praktischer Weise am Heimweg gelegen, uns stets mit neuen Eindrücken versorgt. Unablässig laufen junge Leute mit Schleifchen in den ukrainischen Nationalfarben in den Händen umher, die sie für ein paar Hrywnja (was übrigens so viel wie „Pferdemähne“ heißen soll) verkaufen wollen, dies als „Spende“ tituliert. Dazwischen zaubert ein Straßenkünstler Riesenseifenblasen, die mit Zigarettenrauch gefüllt sind. Kaum schweben sie in der Luft, werden sie auch schon von umhertollenden Kindern zum Platzen gebracht. Hin und wieder entschwebt einem der als Clowns verkleideten Straßenverkäufer ein Luftballon gen Himmel, der sich allmählich abendlich rot verfärbt.

Während ER nun auf direktem Wege zurück ins Hotel geht, möchte SIE noch ein möglichst „authentisches“ Abendessen zu sich nehmen. Während des mittäglichen Spazierganges im „Sowjetviertel“ hat sie eine Art „Stolobaya“ erspäht, wie man sie in vielen Ländern der ehemaligen UdSSR vorfindet. In den Auslagen dieses SB-Restaurants, das hier in einem palastartigen Gebäude der 1950er Jahre untergebracht ist, findet SIE, was das Herz begehrt… in IHREM Falle sind das Soljanka, leckeres Zupfbrot und Topfenknödel mit Schwarzbeermarmelade – ein Gedicht!

7.8.2019, Lemberg

Diesmal bekommen wir frisch gepressten Orangensaft und ein interessantes Brot zum Frühstück serviert, das halb aus Weißmehl, halb aus Kakao besteht. Um unsere Zeit bis zur Weiterfahrt noch möglichst gewinnbringend zu nützen, deponieren wir unser Gepäck im Hotel und spazieren zum bereits sehr lieb gewonnenen Rynok-Platz.

SIE: Die haben da so nette kleine Geschäfte! Die habe ich noch gar nicht von Innen anschauen können! ER: Geh nur ruhig schauen! Für mich gibt es rund um den Platz auch noch einiges zu entdecken!

Nachdem SIE sich an romantisch bestickten Balkan-Blusen, Ohrringen in Kaffeetassenformen aller Art und schrägen Star Wars T-Shirts mit chinesischen Schriftzeichen sattgesehen hat, trifft SIE IHN gegen Mittag wieder beim Neptun-Brunnen.

ER: Ich habe zwei tolle Sachen entdeckt. Die erste ist von der romantischen Sorte, aber man muss Eintritt bezahlen. Die zweite Sache ist einfach schräg – und du darfst keine Klaustrophobie haben!

SIE: Da hast du mich jetzt aber neugierig gemacht! Du kennst mich schon, ich wähle immer das Schräge zuerst!

Der „schräge“ Ort entpuppt sich als Kaffeerösterei der anderen Art an einem Eck des Rynok. Im Erdgeschoß kann man den Röstvorgang in all seinen Etappen mitverfolgen. Dann gelangt man zu einem dunklen Treppenabgang, an dessen unterem Ende man einen Schutzhelm in die Hand gedrückt bekommt. Man durchquert hernach ein schummriges Kellergewölbe, das an eine Mischung zwischen Bergwerk und Bunker erinnert. Laute Hardrock-Musik dröhnt aus unsichtbaren Lautsprechern; mittendrin sitzen gruppenweise Leute und „genießen“ ihren Kaffee. Am Ende des Rundgangs gelangt man in einen ansprechenden Innenhof, den wir als Degustationsort für unsere Getränkeauswahl bevorzugen. Der „Cappuccino nach Lemberger Art“ erweist sich als Türkischer Kaffee mit aufgegossener Milch. Ein genussvoller Abschluss für den Besuch einer Stadt, die sich – berechtigter Weise – als Kaffeehauptstadt Osteuropas immer wieder neu erfindet.

Mit unseren abgeholten Koffern steigen wir schweren Herzens in die Straßenbahn, wo unser Gepäck schon kurz darauf „des Schwarzfahrens bezichtigt“ wird: Wir hatten ganz vergessen, für unsere Koffer die vorgeschriebenen 25,- Cent zu bezahlen und fliegen prompt bei der heute durchgeführten Planquadrat-Kontrolle auf. Es scheint die Kontrolleurin jedoch nicht besonders schwer zu treffen; nach einem kurzen Wortschwall auf Ukrainisch wendet sie sich von uns ab und wichtigeren Dingen zu.

Wir erreichen die Haltestelle, die dem Bahnhof am nächsten gelegen ist. Rund um diese findet ein großer Gemüse- und Flohmarkt statt. Zahlreiche Omis bieten ihre Gebrauchtwaren an – oft nur zwei Hosen und ein Stiefel. Die Zufahrtsstraße zum Bahnhof bietet zahlreiche Verpflegungsmöglichkeiten. Wir entscheiden uns für georgische Piroggen, die mit vor Fett triefendem Schafs- oder Schweinefleisch (oder beidem?) gefüllt sind. Solcherart bestückt ist es wohl besser, dass wir die beiden pompösen Wartesäle, die mit Fresken (und – perfekt gestärkten – Vorhängen) aus der k. u. k.-Zeit geschmückt sind und nur gegen Gebühr besetzt werden dürfen, nur flüchtig in Augenschein nehmen und uns dann zu den Lokalmatadoren rund um den Bahnhofsvorplatz gesellen. Den letzten Bissen unserer tropfenden Piroggen nehmen wir dann kurz vor Eintreffen unseres Zuges, der uns nach Ternopil führen wird, am Bahnsteig ein. Ein im Vergleich zur Strecke Wien-Lemberg neuwertiger Zug nimmt uns auf; Bildschirme in den modernen Großraumwaggons zeigen absurde YouTube-Videos, denen wir aber zunächst noch keine Beachtung schenken: Zu schön ist der Blick zurück auf die Türme der Stadt, die uns in den letzten Tagen sehr ans Herz gewachsen ist. Erst, als die urbane Silhouette gänzlich aus unserem Blickfeld verschwunden ist, wenden wir uns – auch gedanklich – weiter Richtung Osten und denken voll der Vorfreude an unsere nächsten beiden Stationen: das hierzulande unbekannte Ternopil und die prunkvolle Hauptstadt Kiew.

Über unsere Erfahrungen an jenen Orten zu erzählen, ist jedoch eine andere Geschichte…Fortsetzung folgt!