Berührt in Srebrenica und beschämt

Ein Zeitzeuge schildert am Ort des größten Massenmords im Jugoslawienkrieg seine wundersame Rettung.
6. 2019
 
Konzentriert darauf, die Ortsafel von Srebrenica nicht zu übersehen, wären wir mit unseren Motorrädern beinahe an der Gedenkstätte vorbeigefahren. Sie befindet sich im nordwestlich von Srebrenica gelegenen Vorort Potočari, also an jenem Ort, wo das Dutchbat, das für die Schutzzone Srebrenica zuständige niederländische UNPROFOR-Bataillon, in jenen Tagen seinen Stützpunkt hatte. Die Gedenkstätte besteht aus einem muslimischen Friedhof mit charakteristischen, stelenartigen Grabsteinen. Sie schlängeln sich teils halbkreisförmig um eine überdachte Gebetsstätte, wo Besucher, viele davon wohl Hinterbliebene der Opfer, im stillen Gebet ihrer Lieben gedenken. Hier sind die aus den Massengräbern exhumierten und identifizierten Opfer begraben. Immer wieder liest man gleiche Familiennamen auf den Grabstelen: nicht selten wurden alle männlichen Mitglieder einer Familie - Großvater, Vater und Brüder - innerhalb weniger Tage bei dem Massaker ermordet. Monumente erinnern an die grauenvollen Ereignisse, die sich im Juli 1995 zugetragen haben. Auf einer Stein-Tafel steht in großen Ziffern die Zahl 8345; so viele muslimische Männer sind hier und in der näheren Umgebung im größten Kriegsverbrechen seit dem Zweitem Weltkrieg innerhalb weniger Tage einem ethnisch-religiösen Wahn bosnisch-serbischer Truppen zum Opfer gefallen.

Auf der anderen Seite der Straße jener Ort, an dem sich damals vor den Augen der Welt-öffentlichkeit das Unvorstellbare zugetragen hat. Man sieht ein Fabriksgelände, eine stillgelegte Autobatterien-Fabrik. Sie diente als Stützpunkt für die holländischen Blauhelme. Die Gebäude - irgendwie noch erinnerlich von den Fernsehbildern, die damals um die Welt gingen, - stehen noch wie stumme Zeugen da, das Areal, das zum Todestrakt wurde, ist immer noch vom selben Zaun wie damals umfasst. Hunderte muslimische Männer und Frauen hatten sich, angesichts der heranrückenden bosnisch-serbischen Einheiten in dem trügerischen Glauben, sicher zu sein und versorgt zu werden, dort hingeflüchtet. Am Nordende des Areals sieht man noch den schusssicher gepolsterten Wachturm, in dem Späher der niederländischen Blauhelme sich Überblick über die Lage zu verschaffen suchten. Die Soldaten der UNO suggerierten Schutz, waren aber selbst durch Geiselnahmen und Drohungen bereits massiv eingeschüchtert.

Am Rande des Gräberfeldes erzählt uns ein Mann mittleren Alters die traurige Geschichte, die ihn mit diesem Ort verbindet. Er, der heute in den USA lebt, sei das erste Mal mit der Familie hier und deutet mit der Hand auf eine Frau und zwei verschleierte jugendliche Mädchen, die gerade vor zwei Stelen stehen. Die Töchter waren bis vor kurzem noch zu jung, um sie mit den Ereignissen zu konfrontieren, die sich hier zugetragen haben, meint er. Auch er sei bereits in der Hand von serbischen Soldaten gewesen, schildert er uns emotional, doch habe er glücklicherweise jünger gewirkt als er es tatsächlich war und sei wieder freigelassen worden. Für Bruder und Vater hingegen gab es kein Entrinnen, sie waren Stunden nach seiner Freilassung bereits tot, hingerichtet nur deshalb, weil sie der falschen Ethnie angehörten, was in diesem Fall bedeutete, den „falschen“ Glauben zu haben. Gefunden wurden sie Jahre später in einem Massengrab in der Umgebung. Durch einen Gentest konnten Sie eindeutig identifiziert werden und liegen heute hier bestattet.

Wir sind überrascht, als der Mann die niederländischen UNO-Soldaten, die die schutzsuchenden Männer damals den serbischen Einheiten widerstandslos überlassen hatten, verteidigt: „Was hätten die 400 Blauhelme gegen die 20.000 serbischen Soldaten schon ausrichten können?“, fragt er sich und gleichzeitig uns. 2019 hat das UNO-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag von einer fünfprozentigen Teilschuld der niederländischen UNO-Einheit am Massaker von Srebrenica gesprochen und scheint damit die Einschätzung unseres Zeitzeugen zu unterstreichen.

Srebrenica und die zu dessen Gemeindegebiet gehörigen umliegenden Orte, zu denen auch Potočari zählt, waren damals jenes Gebiet*, das noch nicht wieder in der Hand der bosnischen Serben war. Von überall her kamen daher muslimische Menschen und suchten hier Schutz. Dies ist auch der Grund warum die UNO gerade hier die Schutzzone einrichtete. Drei UN-Resolutionen erklärten das Gebiet für die bosnisch-serbischen Militärs wiederholt für unantastbar. Allerdings war die Schutzzone militärisch so schwach ausgerüstet, dass General Ratko Mladič und Serbenführer Radovan Karadžič sich geradezu eingeladen fühlten, in diesem ohnehin schon schmutzigen Krieg noch ein weiteres großes Verbrechen zu begehen. Denn in Wirklichkeit saßen die Schutzsuchenden hier nicht im Asyl sondern in der Falle, eingerichtet von jenen, die sie eigentlich hätten schützen sollen. Aber auch die UNO-Soldaten selbst waren in der Falle, denn nach der Zerstörung eines Panzers durch holländische NATO-Kampfjets drohten die bosnischen Serben als Geisel genommene Blauhelme zu exekutieren und den mit Flüchtlingen vollen Stützpunkt direkt zu beschießen. Die NATO-Militärführung hat deshalb die Luftschläge wieder eingestellt, auch weil man vermutlich wirklich nicht erahnen konnte, was die bosnischen Serben im Schilde führten, als sie mit der Aussonderung der Männer begannen. Ein massiver Luftschlag gegen die bosnisch-serbischen Belagerer hätte vermutlich zahlreiche Opfer unter den Flüchtlingen und UNO-Soldaten gefordert, aber auch das große Kriegsverbrechen verhindert und die zivile Opferzahl deutlich niedriger gehalten. Neben dieser spekulativen Aussage kann man freilich Folgendes mit Gewissheit sagen: Das Dilemma, in dem Dutchbat 1995 in Srebrenica steckte, war auf eine schwerwiegende militärstrategische Fehlplanung der Schutzzone zurückzuführen und mindestens deshalb muss man von einer Mitverantwortung der Vereinten Nationen für das Massaker sprechen.

Als wir uns von dem Mann - tief berührt von seiner traurigen Geschichte - verabschieden, merkt er noch an, dass er es sehr schätzt, dass wir die Gedenkstätte besucht haben, obwohl wir keine Betroffenen seien. Wir aber verlassen den Ort fassungslos und beschämt darüber, wozu christlich dominierte Volksgruppen noch im späten 20. Jahrhundert fähig waren.


* Es war 1992 von bosniakischen Einheiten unter Naser Orič aus der Hand der Serben zurückerobert worden. Orič konnte das bosniakisch kontrollierte Gebiet kurzzeitig auf 900 km2 ausdehnen. Bei Überfällen auf serbische Dörfer, in denen serbische Einheiten Unterschlumpf fanden, soll der Bosniakenführer auch serbische Zivilisten ermorden lassen haben.