Was machen Sie bitte in Stinatz?

Eindrücke von einem Kurzaufenthalt an einem der Hotspots der Burgenlandkroat*innen.
8. 2021
 

Wenn man überlegt, was das Burgenland ausmacht, denkt man an den Neusiedlersee, an Rotwein und Musik. Aber dann auch bald an die Burgenlandkroat*innen und an so klingende Orte wie Stinatz. Viele dürften den Ort aber höchstens vom bekannten STS-Lagerfeuerhit aus den 1990er Jahren kennen. Physisch dort waren vermutlich die Wenigsten. Tatsächlich liegt Stinatz sehr nahe an der steirischen Grenze. Von der Steiermark auf der Bundesstraße kommend hatte ich aus Neugier denn auch beschlossen, den Urlaub dort zu beginnen und nicht einfach nur durchzufahren.

Von den Stinatzern selbst wird die Bedeutung des langgezogenen, auf einem Hügelkamm liegenden Ortes unterschätzt, wie sonst könnte man die Frage zweier sich auf Kroatisch unterhaltender Frauen verstehen, die zu mir meinten, was denn einen "jungen" Mann wie mich an diesen - ich paraphrasiere, was sie vermutlich meinten - "gottverlassenen" Ort führe. Von Gott verlassen ist Stinatz bestimmt nicht, was sich später noch zeigen wird, höchstens von Lebensmittelhändlern, deren letzter vor nicht allzulanger Zeit das Weite gesucht hat. Hier also ohne Fahrzeug, ohne Lieferservice oder ohne eigenen Garten zu leben, käme einer Verurteilung zum Hungern gleich. Tatsächlich ist Stinatz heute ein Pendlerdorf, die meisten Menschen im arbeitsfähigen Alter müssen in die größeren umliegenden Orte und Städte, manche bis nach Wien auspendeln, um den Lebensunterhalt zu verdienen.

Die beiden Damen, die ich mit meiner Frage nach einer Unterkunft verwundert hatte, gaben mir den Tipp, mein Glück doch beim Stinatzer Hof zu versuchen. Von außen sah das stattliche Gebäude aus, als hätte es schon bessere Zeiten erlebt, aber immerhin hat der Hof im Gegensatz zum Lebensmittelhandel überlebt. Und so wurde meinem Motorrad eine improvisierte Garage zugewiesen und mir ein passables Zimmer, in dem ich die Bikerkluft rasch gegen Straßenkleidung tauschte und mich sogleich zu einem ersten Erkundungsgang mit dem vergeblichen Hintergedanken aufmachte, etwas zwischen die Zähne zu bekommen. Ich kehrte also erfolglos in den Stinatzerhof zurück und rechnete allerhöchstsens mit einem Schinken-Käse-Toast, bekam dann aber doch das Tagesmenü serviert, welches aus einem Rindsschnitzel mit Saft einschließlich Suppe und Salat bestand. Ich genoss es unter den gar nicht strengen Augen von Willi Resetarits, der als einer der berühmten Söhne des Ortes hinter mir fotografisch festgehalten an der Wand hing. Der Chef des Stinatzer Hofs, Herr Grandits, der sich zu einer Plauderei zu mir an den Tisch gesellte, merkte dazu an, dass Willi von den drei Resetarits-Brüdern sich noch am öftesten in Stinatz blicken lasse. Der burgenlandkroatische Ort hat also ganz so wie in der Bundeshymne besungen große Söhne hervorgebracht und vor allem die österreichische Kunstszene nachhaltig bereichert.

Als ich zuvor hungrig zum Stinatzer Hof zurückgekehrt bin, sind mir übrigens einige offensichtlich nicht aus Stinatz stammende Personen, eine Frau mit Kindern und auch ein junger Mann, aufgefallen. Später erfahre ich von der Juniorchefin, dass der Stinatzer Hof bereits seit vielen Jahren auch Flüchtlingsunterkunft ist, deshalb das Menü und deshalb auch das Rindfleisch - kombiniere ich. Auch die Burgenlandkroat*innen waren einst Fremde, als sie hier angesiedelt wurden, und sind sprachlich bis heute eine Minderheit in Österreich. Auch wenn ich nicht weiß, ob die Sache mit den Flüchtlingen seitens der Stinatzer*nnen friktionsfrei abgeht bzw. abging, sie ist jedenfalls bemerkenswert.

Aber nicht nur die Lebenden machen einen Ort aus. Die Eigentümlichkeiten lassen sich oft auch an dessen Friedhöfen ablesen und da ist Stinatz geradezu eine Entdeckung und ein Rätsel zugleich, das auch die Ortsansässigen selbst nicht lösen können. Die letzte Ruhestätte liegt hier nicht wie sonst oft üblich bei der Kirche sondern direkt an der Hauptstraße, aber trotzdem nicht ganz am Ortsrand. Schöne Marmorsteine zieren die mehreren hundert Gräber. Die Aufschriften sind großteils auf Deutsch, was mich angesichts der Zweisprachigkeit des Ortes verwundert. Aber dann fällt mir auf, es sind immer wieder die gleichen Nachnamen zu lesen: Grandits, Stipsits, Kirisits, Sifkovits, Resetarits. Sicher 90% der Verstorbenen tragen genau diese Familiennamen, nur der Rest entspricht der sonst üblichen Namensvielfalt auf Friedhöfen. Ich frage eine Frau, die gerade Blumen und Kerze an ihr Familien-Grab bringt, was es damit auf sich hat, ob hier gar alle miteinander verwandt seien. Letzeres verneint sie, aber sie kann auch nicht erklären, warum man in Stinatz mit nur fünf Famliennamen auskommt.

Namen hin oder her: Der Gipfel der Traurigkeit wäre es vermutlich, wenn in einem Ort auch noch das letzte Gasthaus zusperren würde, aber davon ist Stinatz zum Glück weit entfernt. Nach dem "Begräbnis" geht es normalerweise zum Totenmal, ich aber mache mich auf zum zweiten Stinatzer Lokal, dessen Name ich leider vergessen habe. Nicht ganz sicher lässt sich sagen, um welchen Lokaltyp es sich überhaupt handelt. Nach einem Café sah der Gastraum nicht aus, eher nach einem Tschecherl, worauf auch die Kundschaft hinwies, die sich vornehmlich aus Männern um die 40 aufwärts zusammensetzte und die dem Alkohol und Sportwetten zugetan schien. Sie waren wohl auch wegen der adretten Dame hinter der Bar nach einem Tapetenwechsel hier aus. Ich wurde gut bedient, aber ignoriert, wohl auch deshalb, weil man nicht so recht wusste, was man mit einem Fremden, der nicht Flüchtling war, hier anfangen sollte. Meine Aufmerksamkeit galt neben dem Bier dem Film "Pretty Woman", der über den Lokalfernseher flimmerte. Nicht zu überhören war allerdings das große Thema an diesem Wochenende, nämlich die bevorstehende Verabschiedung des Pfarrers samt der Aussicht auf eine Gratis-Schnitzelsemmel.

Die Seniorchefin des Stinatzer Hofs, die mich am Sonntag nach dem Frühstück mit zwei frischen Äpfeln aus dem eigenen Obstgarten und dem gesamtburgenländischen Pfarrblatt in kroatischer Sprache versorgte, lieferte mir den Hinweis, dass bei der heutigen letzten Sonntagsmesse des aktuellen Pfarrers auch eine Tamborizza-Gruppe aufspielen würde. Nicht nur, aber auch deshalb beschloss ich, vor meiner Weiterfahrt den Abschieds-Gottesdienst zu besuchen. Der Andrang war groß, was weniger der Aussicht auf eine Gratis-Schnitzelsemmel geschuldet war als der Beliebtheit des Pfarrers. Mangels Platz in der Kirche musste die halbe Gemeinde draußen stehen und von dort mitfeiern. Das sonnige Wetter spielte zum Glück mit. Die Messfeier dauerte ungefähr doppelt so lang wie ein katholisches Hochamt, weil jeder Satz sowohl auf Deutsch als auch auf Kroatisch gesprochen wurde. Dazwischen sorgte die Tamborizzacombo mit angenehmer musikalischer Exotik in den Ohren für etwas Kurzweiligkeit. Die Schnitzelsemmel erwartete ich nicht mehr. Vor mir lag noch ein weiter Weg mit vielen weiteren Entdeckungen im jüngsten Bundesland Österreichs.