Napoli im November

Queen of the Underground oder eine Stadt als Tanz am Rande des Vulkans
11. 2023
 
Wer den mediterranen Süden nur karg und karstig kennt, war noch nie in Neapel. Wo die Citronen blüh'n, hängen die Bäume selbst spät im Herbst voll gelber Früchte. Und während sich in Nord- und Mitteleuropa bereits der erste Schnee ankündigt, sitzt man hier mit leichter Sommerjacke im Schatten üppig grüner Bäume. Zum Beispiel am Capodimonte oder rund um die Villa Floridiana, die von Natur umwuchert herrschaftlich auf den Golf von Neapel herabschaut. Fruchtbarkeit und freundliches Klima sind so eindrucksvoll, dass sich die Frage gar nicht stellt, warum in unmittelbarer Nähe des Vesuvs so hartnäckig Zivilisation floriert und sich die Häuser bis zu den Hängen des Vulkans ausbreiten.

Obwohl: Ein bisserl gruselig ist die seismographische Situation der Region halt schon. Selbst Reisende werden zur Zeit darauf gestoßen, dass zunehmend häufige Beben den Ausbruch der Phlegräischen Felde westlich der Stadt ankündigen. Entwicklungen, die das Entstehen eines „Supervulkans" befürchten lassen, was nicht nur Neapel bedrohen würde, sondern schlimmstenfalls das Klima der ganzen Welt.

Aber eh: Als Zentrum globalen Unheils hat Neapel ja schon Übung. Die Stadt ist mehr als nur ein Hotspot des organisierten Verbrechens. Von hier aus werden Verbrechen organisiert. Und zwar weltweit. Die seit dem 16. Jahrhundert in Neapel nachweisbare Camorra ist die wahrscheinlich mächtigste aller global tätigen Mafiaorganisation.

Katakomben & Camorra

Seit Jahrhunderten profitiert die Camorra von der sozialen Ungleichheit, die in kaum einer anderen Stadt Europas so groß und so sichtbar ist wie in Neapel. Das wird auch bei einem Besuch genannter Grünanlagen deutlich. Auf dem Weg zum Capodimonte kommen wir durch das Rione Sanità, dessen eindrucksvolle Stadtpaläste längst von slumartigen Spuren der Armut aus dem Sichtfeld gerückt wurden. Der Stadtteil, dessen Zentrum sich unter einer Autobrücke duckt, gilt als typisch für Neapel und zugleich als Camorra-Territorium, wo Arbeits- und Perspektivlosigkeit die Menschen in die Kriminalität treiben. Das Bild ist dominiert von über die engen Straßen gespannten Wäscheleinen und improvisierten Ausbauten, die auf die Gehwege wuchern, um den Bewohner*innen mehr Raum zu geben. Ja, das Ineinanderfließen großer Vergangenheit und prekärer Gegenwart ist tatsächlich charakteristisch. Und zugleich ein Klischee, das der Stadt am Vesuv nicht immer gerecht wird. …

Unterirdisch erstrecken sich im Fels des Capodimonte die Katakomben von San Gaudioso, beeindruckende Zeugnisse der ersten Christen, in ihrer Nachbarschaft steht, fast vergessen, ein romanischer Sakralbau. Vor wenigen Jahren hat eine junge Generation von Sanità-Bewohner:innen die Initiative ergriffen, das Viertel der Camorra-Tristesse zu entreißen. Im Zentrum ihrer Bemühungen stehen Öffnung und Vermittlung dieser Kulturschätze. Spürbar ist das nicht zuletzt im Ticket- und Museumsshop der Katakomben, der sich mit intellektuellem Augenzwinkern und dem informellen Charme eines Jugendzentrums deutlich von üblichen touristischen Angeboten abhebt.

Ganz anders das urbane Umfeld der Villa Floridiana. Die Fußgängerzone Via Scarlatti ist ein Zentrum des wohlhabenden, des schicken Neapels. Hier bis hinunter zur Uferstraße sind die Häuser frisch und in warmen Farben gestrichen, die Geschäfte teuer und zahlreiche Passant*innengesichter noch teurer chirurgisch optimiert. Wohlhabende Reisende finden internationale Mode nach italienischem Geschmack, bescheidene Besucher:innen setzen sich in ein Straßencafé, halten die Nase in die Novembersonne und genießen einen göttlich guten Espresso. Der kostet auch hier (wie überall in der Stadt) nur einen Euro.

Andacht & Ansage

Das schicke Italien ist also westlich der historischen Altstadt von Neapel anzutreffen, wo die Straßen breiter und die Häuser weniger alt sind. Das Zentrum selbst präsentiert sich eng, laut und quirlig, arm, verlottert und verrucht. Viele der dunklen Gassen zwischen den bröckelnden Palais sollen gänzlich von der Camorra dominiert sein. Unüberhörbar jedenfalls die Dominanz des motorisierten Individualverkehrs, insbesondere des einspurigen. Barhäuptige Menschen auf Mopeds (Helme, zumindest solche mit Visier, gelten als Maskierung und sind Killerkommandos der Camorra vorbehalten) treiben die Passant:innen hupend vor sich her und erfüllen das übervolle Bild in den Gassen mit ständiger Bewegung. Improvisierte Madonnen-Winkel wechseln sich mit üppigem Graffiti ab, das Baudenkmäler aus allen Epochen überzieht, Anarchismus und Katholizismus, Glückspiel und Feminismus überlagen sich in den Botschaften des Wandschmucks – und über allem thronen Napolis Fußballgott und ein göttlicher Paprika-Penis. …

Maradonna & Madonna

Wer in den Dom drängt, um den prachtvollen architektonischen Stilmix seines Innenraums zu bewundern oder in die San Paolo Maggiore, wo Relikte römischer Tempel verbaut sind, stört die dort still Betenden. Nichts ist so charakteristisch für Neapel wie das Nebeneinander von Tourismushorden und gut besuchtem Gottesdienst, von Religion und Aberglaube, von Mafia und Marienverehrung: Maradonna und Madonna. Der Argentinier, dessen persönlicher Niedergang nicht ohne Unterstützung der Camorra in Neapel seinen Ausgang nahm, wird verehrt wie ein Heiliger, nein Gott. Häufiger als sein Konterfei ist nur die rote Cilli-Schote anzutreffen: Das Cornicello wird in Neapel seit der Antike als Glückbringer, schützender Talisman und Fruchtbarkeitssymbol verehrt bzw. vertrieben, nicht zuletzt, weil er das Gemächt des griechischen Fruchtbarkeitgottes Priapos darstellt.

Unterwelt & Unterwelt

Die Unterwelt Neapels ist groß – in jeder Hinsicht: unter den offiziellen politisch ökonomischen Strukturen das „System“ der Camorra, unter dem Capodimonte die Katakomben, unter der Altstadt eine ältere römische, darunter – noch älter – eine griechische. Und dazu ein gigantisches in den porösen vulkanischen Tuffstein gegrabenes Labyrinth.

Die große Bedeutung alles Unterirdischen unterstreicht nicht zuletzt die neapolitanische U-Bahn. Sämtliche Stationen der Linie 1 wurden künstlerisch gestaltet. Das Ergebnis ist eine Galerie für alle, die in der Vielfalt künstlerischer Konzepte und Positionen, die sie vereint, überraschungsreiche Kunsterfahrung bietet. Zugleich entsteht der Eindruck einer verkehrten Welt: unten die helle, saubere, kreativ herausgeputzte Subway, oben die dunklen schmutzigen Gassen, durch die röhrend ramponierte Mopeds rasen.

Wie mit dem Lineal gezogen durchschneiden mehrere dieser schmalen historischen Straßen das Zentrum. Luft holen lässt es sich auf den Altstadtplätzen, zum Beispiel auf der gemütlichen Piazza Bellini, deren Name an den Komponisten Vincenzo Bellini erinnert – und daran, dass Neapel einst als Musikhauptstadt der Welt galt (obwohl das im Barock und somit weit vor Bellinis Zeit war). Natürlich öffnet auch der Bellini-Platz einen Blick nach unten: auf die Ausgrabung der alten griechisch-römischen Stadtmauer.

Gebackenes & Gebackenes

Berühmt ist Neapel ja für seine Pizza. Die soll es hier schon sehr lange geben (vor allem Margherita und Marinara) aber eine Herleitung aus der Antike geht sich (allein schon der Tomaten wegen) doch nicht aus. Sehr wohl antiken Ursprungs soll die beliebte neapolitanische Praxis sein, alles Essen aus tiefem Fett herauszubacken. Das macht man z.B. mit den süßen Sfogliatelle, frittierten Teigtaschen mit Ricottafüllung. Und das macht man hier mit Pizza. Auch die kommt dann als frittierte Teigtasche mit Ricottafüllung daher. Eh Wow. Aber nichts für Gesundheits- oder Figurbewusste. Danach gibt’s wo die Citronen blüh'n einen Limoncello aus großen gelben italienischen Früchten. Anders als überall sonst auf der Welt kann der in Napoli richtig gut sein.