Südenglands Vielfalt

Die Region von Dover bis Painswick ist wie eine Miniatur des britischen Universums.
7. 2023
 

Ich verstehe, wenn man die Briten aus politischen Gründen nicht mag – es geht mir genauso. Dennoch habe ich mich bei einem Austauschprogramm mit Oxford vor 16 Jahren in sie und ihr Land verliebt. Nirgendwo anders empfand ich die Menschen so freundlich, den Akzent so schön, den Humor so exquisit und die Baukunst so charmant wie hier. Und bisher habe ich die Musik, die diesem Land entsprungen ist, noch gar nicht erwähnt. All diesen Dingen habe ich mich in diesem Sommer bei einer vierwöchigen Reise durch Südengland gewidmet.

Ich fahre mit einem Ford Galaxy, den ich nur mit einer Matratze und einer Kaffeemaschine ausgestattet habe, über Nürnberg und Aachen nach Dünkirchen und setzte dort mit der Fähre nach Dover über. Herne Bay will ich sehen, weil im Guardian stand, dass sich an diesem Ort seit Jahrzehnten nichts verändert hat. Waren Sie schon einmal in Eisenerz? Herne Bay ist das Eisenerz von Kent: Eine angenehme Mischung aus menschenleer und desolat.

In Canterbury bleibe ich stehen, um mir die Westgate Gardens anzusehen und eine Bootstour entlang der alten Stadtmauer zu machen. Der Reiseführer erzählt mir, dass ich um ein Haar seine Freundin, eine Wienerin, verpasst habe.

Eine Landsfrau auf der Fähre sagt, ich soll zum Strand Camber Sands fahren, also mache ich das. Nachdem ich über die Düne geklettert bin, fühle ich mich, als wäre ich in Lignano: Sehr viele Menschen, sehr viel laute Musik, sehr viel Sand und ein flacher Zugang zum Wasser. Ich sehe mir das fünf Minuten an und gehe wieder. Vielleicht konnte mich die Dame nicht leiden, weil ich ihr auf der Fähre den besseren Sitzplatz stibitzt habe.

Als langjähriger Fan des Films »Liebe braucht keine Ferien« muss ich mir Shere ansehen. In diesem Inbegriff einer romantischen Weihnachts-Komödie tauschen zwei Frauen über die Weihnachtszeit ihre Häuser. Das bekannte, malerische Cottage aus dem Film befindet sich laut meiner Recherche in Shere. Ich betrete das ebenso im Film präsente White Horse Pub und erkundige mich beim Kellner nach dem Standort. Er lacht mich aus und erzählt, dass die Front dieses Cottages nur für den Film gebaut und danach wieder abgerissen wurde. Typisch Hollywood! Macht aber nichts, ich sehe ausreichend andere Drehorte und viele mühevoll dekorierte Häuschen und Gärten.

Da ich ein paar Tage auf einem Campingplatz in der Nähe wohne, erkunde ich die Brutstätte der nächsten Generation englischen Privilegs: Das Eton College, eine Elite-Schule für Jungen, zu der Ehemalige wie George Orwell, Boris Johnson oder die englischen Prinzen zählen. Als ich am Eingang für ein Foto einen Meter zu weit nach vorne trete, werde ich gleich lautstark zurechtgewiesen. Es gelingt mir aber später, mir über eine Baustelle Eintritt zu verschaffen. Es gibt verschiedene Verbindungs-Häuser, eine Kirche und einen Friedhof. Jedes Gebäude ist detaillierter und aufwändiger gebaut als das andere. Der Ort Eton selbst hat nur rund 5000 Einwohner und besteht hauptsächlich aus der patriotisch geschmückten High Street, in der sich Anzug-Schneidereien neben Foto-Studios und Pubs befinden – sehr klischeehaft, aber hübsch.

Ich verbringe einen Tag in Bognor Regis, da ich am nächsten das in der Nähe liegende Goodwood besuchen möchte. Am etwas abseits gelegenen Felpham Beach habe ich einen Tag lang den ganzen Strand für mich.
Das Goodwood Festival of Speed ist die weltweit größte Veranstaltung ihrer Art und wird vom motorsportbegeisterten Duke of Richmond ausgerichtet. Zur Begrüßung gibt es eine Flug- und eine Stunt-Show und man kann sich Autos ansehen, die ihre Markteinführung noch vor sich haben. Den jährlich hier teilnehmenden Gast (der auf einem der vergangenen Festivals mit einem Ohrensessel auf das Dach seines Autos geschnallt, als Mr. Bean darin sitzend, auf der Rennbahn seine Runden gedreht hat), Rowan Atkinson, habe ich leider nicht getroffen. Und ja, er hat das Auto damals vom Dach aus mit zwei am Lenkrad angebundenen Gurten selbst gelenkt.

Shaftesbury kennt man für den Ausblick vom Gold Hill, der in den 70er-Jahren durch einen dort gedrehten Werbespot für die Brot-Marke Hovis bekannt geworden ist.

Wells wurde mir vor meiner Reise von einer Engländerin empfohlen. Vor der gotischen Kathedrale steht ein Mann mit einem Sticker auf der Brust: »Need help?«. Er beratet freiwillig Touristen als Pensions-Beschäftigung und empfiehlt mir Vicars Close. Es ist die älteste bewohnte Reihenhaussiedlung Großbritanniens, die im 14. Jahrhundert für Mitglieder des Kirchenchors erbaut wurde. Auch heute leben dort noch Mitarbeiter der Kathedrale und deren Familien.

Das in Glastonbury jährlich stattfindende Glastonbury-Festival, ein weltweit bekanntes Musik- und Kunst-Festival, findet eigentlich auf einer Farm in Pilton, etwas abseits des Ortes Glastonbury statt. Ich bin ein paar Wochen zu spät hier, um das Festival zu erleben, trotzdem merkt man dieses dem Ort sehr an, beinahe alles was man sieht, steht im Bezug zur Hexerei, zu Tarot und zu spiritueller Erleuchtung. Da Aberglaube nur Unglück bringt, möchte ich lieber gut frühstücken gehen, finde ein nettes Lokal und bitte den Kellner etwas aufzutischen, das er empfiehlt. Er bringt mir ein Burger-Brot mit Butter und zwei aufgeschnittenen gegrillten Würstchen darin, die wären vom Fleischer gegenüber. Es ist wenig nahrhaft und liegt mir die nächsten 24 Stunden im Magen.

Painswick ist in den Cotswolds, wo ich ein wunderschönes Cottage gemietet habe und zum ersten Mal seit zwei Wochen in einem normalen Bett übernachte.

Ich habe viele Orte gesehen, die ich schon lange sehen wollte. Und, bis auf einen Kurzbesuch im Krankenhaus wegen einer Verletzung am Auge und einer Autopanne in Frankreich auf der Heimfahrt, hat alles gut funktioniert.

Das Fahren im Linksverkehr ist weniger schwierig, als angenommen. Allerdings würde ich empfehlen, sich vorab mit den Verkehrsregeln für Kreisverkehre vertraut zu machen.

Mit wenig Gepäck reist es sich am besten und im Auto zu schlafen, sich auf dem Gehsteig die Zähne zu putzen und sich danach in einem Fitnesscenter um ein paar Pfund zu duschen, ist nicht unbedingt weniger komfortabel als das Gleiche auf einem Campingplatz zu tun.

Ein ständiger Ortswechsel erschwert das Knüpfen von Kontakten. Lediglich am Campingplatz in Surrey, an dem ich ein paar Tage bleibe, verbringe ich die Abende mit einer Gruppe 60-jähriger Hippies, die mir von ihrer wilden Jugend erzählen.

Alleine zu reisen hat viele Vorteile: Man tut nur das was man möchte und wann man es möchte und macht dadurch mitunter viel Tolles, was man sonst sicher nicht getan hätte. Man ist offener, spricht mehr mit Fremden und hat dadurch spontanere Erlebnisse. Ich liebe es, alleine zu reisen! Schließlich muss ich auch nicht mehr, wie damals in Oxford, alle paar Tage in ein Internetcafe gehen, um via Myspace Kontakt nach Hause zu halten.