... den gebogenen hölzernen Stützen der ausragenden Balkone und Gebäudeteile an den schweren Außenmauern der Klosterburgen.

Ich verstehe die Sprache nicht, sehe aber die Ikonen und den Kult der Mönche. Wir gehen vorüber, sind fremd, und oft denke ich, dass dies alles ein gewaltiges Missverständnis ist.


Erinnerungen

Nach unserer Wanderung um die Südspitze der Halbinsel und dem anschließenden Aufenthalt im Kloster Agiou Pavlou marschierte unsere Gruppe zurück nach Nea Skiti. Mit diesem Ort verbinden mich bleibende persönliche Eindrücke von zwei Einsiedlermönchen, bei denen ich ihre Gastfreundschaft erleben konnte.

Vater Gregorios lebte mindestens zwei Jahrzehnte in einer Skite mit Meeresblick, die am Rand eines zweihundertmeter hohen Felsabbruches gebaut ist. In seinem neu gebauten Wohnraum gab es eine Tür, die zu einem über den Abgrund gelegenen Balkon führen sollte. Der Balkon wurde nie gebaut, aber die Türe war da und ließ sich öffnen. So hätte man jederzeit einen Schritt vor die Tür machen können, der unwiderruflich der letzte gewesen wäre. Der Abgrund vor Vater Gregorius' Haus hatte aber noch einen wichtigen Zweck. Sämtliche Abfälle seines Haushaltes fanden in der unendlich erscheinenden Tiefe ihre letzte Ruhestätte. Da der neue Zubau mit einer seitlich am Gebäude liegenden Terrasse leicht überhängend am Felsen gebaut war, konnte man den Abgrund nicht einsehen. Der Blick auf den Boden des Abhanges wäre nur möglich, wenn man sich weit über die Mauer hinauslehnen würde, was angesichts der schwindelerregenden Tiefe niemand tat. Der Haushaltsabfall „verflog“ sich sozusagen in den unendlichen Weiten eines grandiosen Panoramas mit Blick über den kleinen Hafen der Nea Skiti bis hinüber zur benachbarten Halbinsel Sidonia, der mittleren der drei Halbinseln der Chalkidiki.

Bei meinem vorletzten Besuch im Haus des Einsiedlers Gregorios, war seine Demenz schon sehr merkbar. Er hat unseren angemeldeten Besuch zwischenzeitlich einfach vergessen, tat aber so, als ob er sich erinnern würde. Er fand den Schlüssel zu seinem Gästezimmer nicht, und wir mussten in einem Vorraum improvisiert auf Matratzen  am Boden schlafen. Es war die katholische Osterzeit im April und die Nächte waren empfindlich kalt. Von dieser Übernachtung habe ich eine schwere Verkühlung mit hohem Fieber davongetragen. Den Rest unseres Besuches am heiligen Berg erlebte ich dann nur noch wie im Fiebertraum.

Im Jahr danach hat Vater Gregorios seine Skite verlassen. Seine Gastfreundschaft ist unvergesslich, trotz seiner beginnenden Demenz. Am späten Nachmittag eintreffend, begrüßte er uns, indem er mit dem Zubereiten einer Fischsuppe begann. Er war auch Ikonenmaler, und er trennte nicht sehr strikt zwischen seinen Tätigkeiten. In seinem Wohnraum mit der Tür in den Abgrund, lagen Entwürfe für Ikonen, grundierte Holzbretter, halb fertiggestellte Arbeiten unter den Küchenwerkzeugen und den Lebensmitteln. Er warf seine Zutaten für die Suppe in einen großen Kessel mit kochendem Wasser, dazu die verschiedensten Fische und ließ das Gebräu lange über dem Gasherd auf starker Flamme brodelnd kochen. Am Ende mit Zitronensäure und Pfeffer abgeschmeckt... niemals habe ich eine köstlichere Fischsuppe erlebt. Wir aßen sie mit anderen Gästen gemeinsam um den großen Tisch sitzend, mit konzentrierter Aufmerksamkeit. Die zerkochten Fische mitsamt Köpfen und Gräten erforderten höchste Vorsicht.

Das Abendgebet in seiner kleinen überkuppelten Kirche überraschte mich wieder. Er forderte uns auf, ein katholisches Gebet zu sprechen, und nach einiger Verlegenheit unsererseits, erinnerte ich mich an einen lateinischen Choralgesang. So hörte ich mich zu meiner Überraschung das „Chrisus factus est“ aus der Gregorianischen Karfreitagsliturgie singen.

Im letzten Jahr fanden wir bei Vater Arsenios ein Quartier. Sein Haus hat einen wunderbaren hölzernen Balkon mit Weinlaub und schönem Blick über die gesamte Siedlung mit seinen Kirchen und hinab zum Meer. Er lebt gemeinsam mit einem jungen Priestermönch in einem größeren Haushalt als der des Vaters Gregorios. Nach seiner freundlichen Begrüßung verschwand der Mönch wortlos und wir blieben ahnungslos in seinem wunderschön blühenden Garten in der Laube vor dem Treppenaufgang sitzen. Wir waren zu sechst und einige von uns zogen sich in die Schlafplätze zurück oder machten einen Rundgang durch das Dorf. Nach etwa einer Stunde rief und läutete Vater Arsenios nach uns. In seiner Küche wartete eine köstliche Mahlzeit. Der jüngere Mönch saß stumm mit uns am Tisch und hielt eine Hand immer hinter dem Tischtuch verborgen. Manchmal blickte er zur Seite und fummelte unter dem Tisch etwas verstohlen herum. Am Ende der Mahlzeit legte er den Gegenstand auf den Tisch. Es war ein nagelneues Smartphone. Seine finstere Miene hellte sich etwas auf und er buchte mit seinem Handy für uns ein Schnellboot, das uns am Vormittag des nächsten Tages nach Ouranopoli bringen sollte. Er hatte alle Abfahrts -und Ankunftszeiten auf seinem Display parat, und erwies sich als sehr hilfsbereit.

Auch bei Vater Arsenios hielt die neueste Kommunikationstechnologie Einzug. Er zeigte uns auf seinem Smartphone Fotos von seinen Erfolgen als Fischer in seinem Motorboot und nahm das Internet zur Bestimmung unbekannter Fischarten zu Hilfe. Ja, und die alte Technik, das Faxgerät und das Festnetztelefon, das brauche er nicht mehr. Die Geräte verstauben in seinem Abstellraum. Zu meinem Erstaunen beobachtete ich schon beim Festgottesdienst in der großen Lavra einen alten Mönch in der Kirche mit Selfiestick, mit dem er sich selbst und den Gottesdienst filmte. Auch anschließend ging dieser alte Mönch mit dem aufgepflanzten Smartphone über seinem Kopf durch die versammelte Festgemeinde und lächelte in seine Kamera.

Das Schlafquartier bei Vater Arsenios hielt noch eine Besonderheit für mich bereit. Man teilte mir ein Einzelzimmer zu, eine winzige Zelle mit einem Bett und am Fußende ein kleines Tischchen am Fenster. Die Wände waren volltapeziert mit bedruckten Zetteln, die Ikonen und Heiligenbildchen darstellten. Es sollte sich herausstellen, dass ich, aus wer weiß welchen Gründen, die ganze Nacht nicht schlafen konnte. Ich legte mich müde auf das schmale Bett und nach zwanzig Minuten hatte ich den Eindruck, die Ebene des Bettes wäre schief, und ich müsse mich festhalten, um nicht abzustürzen. Ich erhob mich, und ein Schwindelgefühl erfasste mich in dem engen Raum. Das fahle helle Mondlicht schien durchs Fenster, und ich trat auf den großen hölzernen Balkon ins Freie. Dort fand ich im Halbdunkel einen Sessel und beobachtete das Meer in der Hoffnung, das Schwindelgefühl würde vergehen. Ich legte mich wieder hin, stand wieder auf ... so verging diese Nacht. Um sechs Uhr früh im Morgengrauen versammelten sich alle Mönche der Nea Skiti zum allwöchentlichen, gemeinsamen Sonntagsgottesdienst. Vor dem Kircheneingang liegt ein freier Vorplatz mit schöner Aussicht nach Westen über den Hafen und das Meer. Die Apsis weist nach Osten, so ist es der Brauch seit frühchristlicher Zeit. Das Licht aus dem Osten, der Sonnenaufgang, die Auferstehung. Der thronende Christus, die Tradition des Cäsaropapismus, die Einheit von Christus und Kaiser, der auferstandene, allherrschende Pantokrator. Ich saß schwindlig, müde, unausgeschlafen wie in leichter Trance in einem der hohen Holzsessel im Narthex der Kirche. Der Gesang, die Glocken, der Weihrauch, der endlose Singsang der Gebete, dann die Eucharistie mit tiefen Verneigungen der Gemeinde, das Küssen der Ikonen und heiligen Gegenstände, etwa drei Stunden lang. Derweilen hob sich die Sonne strahlend über das Gebirge der Halbinsel im Osten und erhellte die blaue ruhige Wasseroberfläche des Meeres. Mein innerer Zustand schien mit dem äußeren Geschehen zu korrespondieren. Langsam schritten wir gemeinsam mit unseren Gastgebern wieder hinauf in die Skite.


Hitze und Kälte

Das Kloster „Osiou Grigoriou“ liegt auf einem Felsen direkt am Meer. Der Gästetrakt ist ein eigenes Gebäude, abseits des Klosters direkt an dem kleinen Hafen. Ein mit Zypressen gesäumter Weg zieht sich hinauf zum Eingangstor des höher gelegenen Klosters. Es war an diesem Tag unglaublich heiß und wir lagen nach der Zuteilung des Quartiers in unseren Betten und erholten uns von den Anstrengungen in der Hitze des Tages. Das Kloster ist auf einem schmalen Felsen gebaut und zieht sich die Anhöhen hinauf. Zwei schmale Burgtore sind zu durchqueren und danach betritt man einen kleinen Innenhof vor der Kirche hinter der sich wieder hohe Gebäudeteile auftürmen, welche auf höheren Felsen sitzen. Die Nachmittagssonne auf der Westseite der Halbinsel kann hier gut ihre Wirkung entfalten. Zur Gebetszeit vor dem Abendessen treten wir in den Exonarthex wo wir nichtorthodoxe Katholiken zu sitzen haben, und bemerken erleichtert die kühle Luft des halbdunklen Innenraumes. Über der Eingangspforte des Katholikons arbeitet eine sehr wirkungsvolle Klimaanlage und bläst ihre kalte Luft über die Köpfe und Nacken der unter ihr stehenden Gläubigen. Anfangs ein Genuß, wandelt sich das Erfrischungsgefühl in ein leichtes Frösteln, wenn der Schweißfilm auf der Haut erkaltet und das Kühlschrankaggregat weiter bläst und bläst. Von extremer Hitze in die künstliche Kälte eines Kühlhauses. Bald sind die Gedanken angespannt und einige von uns verlassen den Raum, kommen später wieder, gehen aber wieder hinaus und warten dann doch lieber in der Wärme die Gottesdienstzeiten ab. So ein Verhalten während der langen Gebetszeiten ist offensichtlich nicht verpönt. Immer wieder beobachtete ich Mönche, die später kamen, früher gingen, sich vor den Narthex setzen und eine Plauderei mit anderen Mönchen abhalten. Zuerst gehen sie hinein, küssen sich durch die heiligen Ikonenwände, verneigen sich, machen Kreuzzeichen, bleiben kurz und gehen wieder hinaus.

Die Abläufe der Gebetsrituale sind anders als im Katholizismus. Im Vergleich zur orthodoxen Liturgie erscheint mir der katholische Gottesdienst fast wie militärisches Exerzieren. Also gemeinsamer Einzug, ein Lied, aufstehen, sitzen, aufstehen, knien, sitzen, singen und dann gemeinsamer Auszug, ein rationales Ritual. Dagegen scheinen mir als sprachunkundigem Beobachter die orthodoxen Bräuche viel entspannter, weniger reglementiert. Es gibt eine Gruppe, die die Zeremonien anführt, alle anderen Teilnehmer haben mehr Bewegungsfreiheit und entscheiden selbst über ihre Art der Anteilnahme. Und doch sieht man sofort am Verhalten, an der Körpersprache, am Auftreten in der Kirche, wer dazugehört und wer nicht.

Oft wird nach dem Gebetsgottesdienst das gesamte Arsenal an Reliquien und heiligen Gegenständen zur Verehrung ausgestellt. Die Gemeinde zieht in langen Einzelreihen an den goldenen Vitrinen und Bildern vorbei, und spätestens hier fühlt jeder wohin er gehört. Im Kloster Vatopediou bekommt man den Gürtel der heiligen Jungfrau, oder das Ohr des heiligen Chrisostomos zu sehen. Diese Dinge mit eigenen Lippen zu küssen, was vor und nach mir noch dutzende andere Gläubige tun, und dabei innerlich zu glauben, dass dies eine Verbindung zu etwas Heiligem herstellt ... hier verläuft eine mentale Grenze zwischen Christen der Ostkirche und des Westens.

Niemals hatte ich als Mitteleuropäer das Brauchtum der Ostkirche so dicht, lebendig, authentisch und unmittelbar erlebt wie in dieser Republik in der Republik Griechenlands.



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