73 Kilometer über den Zagari Pass im Großen Kaukasus

Der Weg vom georgisch-swanetischen Uschguli nach Lentechi ist eine Erfahrung der Grenze – und wie schön es hinter ihr ist.
08. 2017
 

Ein Jahr davor noch (ja, wir waren mehrere Male in Georgien und werden wieder hinfahren) – also ein Jahr davor noch hatten wir im swanetischen Dorf Lentechi, 200 km nordwestlich der Hauptstadt Tiflis und mitten im Großen Kaukasus, die Warnungen der örtlichen Bevölkerung, über den Zagari Pass ins Bergdorf Uschguli zu fahren, für etwas übervorsichtig und daher kleinlich und unnötig gehalten. Eigentlich hatten wir am späten Nachmittag überlegt, die mickrigen 73 Kilometer noch auf uns zu nehmen. Wir würden es nicht schaffen, da ja nicht einmal der Weg ausgebaut sei, beteuerten die Gastgeber im Guesthouse „Leksura“, dem besten zwischen Europa und Asien. Am Ende ließen wir uns breitschlagen, zumal uns derart zu essen und trinken serviert wurde, dass jegliche andere Abenteuerlust wie von selbst verschwand.

Ein Jahr später aber – wir erzählten niemandem von unserem Vorhaben – hatten wir nur den Hinweis des Autovermieters aus Tiflis im Hinterkopf, dass gewisse Routen verboten seien: Eine davon wäre die über den Zagari Pass. Am Ende muss man sagen: Die örtliche Bevölkerung hatte natürlich Recht, dass das ganze mehr als ein Abenteuer und eine Grenzerfahrung war. Aber wir hatten auch Recht, dass nur der die schönsten Ecken dieser Welt hinter dieser imaginären Grenze sieht, der sich eben auch zu ihnen vorwagt. Nein, es war nicht mutwillig, die Strecke über den Zagari Pass zu erkunden. Sie war bis auf eine Stelle nämlich auch nicht wirklich gefährlich. Aber die Tatsache, dass wir über acht Stunden brauchten, um sie mit nur einer kurzen Pause zurückzulegen, lässt erahnen, welche Formationen des Weges, sofern man ihn Weg nennen kann, der Duster zu überwinden hatte. Dabei war es noch ein Glück, dass wir den Weg nicht von Lentechi Richtung Ushguli, sondern umgekehrt (also von Nord nach Süd und tatsächlich talwärts) genommen haben. Andernfalls hätten wir trotz Allradantrieb Schwierigkeiten gehabt, die steilen Passagen mit ihren tiefen Löchern zu meistern.

Womit wir für die Mühe entschädigt wurden? Mit dem unmittelbaren Blick auf den Schchara, den mit 5.201 Metern höchsten Berg Georgiens und dritthöchsten Berg des Großen Kaukasus an der Grenze zwischen Georgien und Russland. Mit maximaler Einsamkeit, da während acht Stunden vielleicht zwei Autos und zwei Radfahrer (es waren interessanterweise Österreicher) entgegenkamen, wobei Letztere ihr Gefährt die meiste Zeit schieben, wenn nicht gar tragen mussten. Mit übergroßen Wespen und vor allem Pflanzen – nicht gezüchtet, sondern von der Natur mit übermäßigem, mannshohem Wachstum bedacht. Darunter der hochgiftige Riesen-Bärenklau (auch Herkuleskraut oder Kaukasischer Bärenklau genannt), bei dessen Berührung schmerzhafte Blasen mit Hautverbrennungen ersten und zweiten Grades und darüber hinaus auch Fieber, Kreislaufschocks oder akute Bronchitis drohen. Sein Weiß konterkariert das Rot, Gelb und Orange auf den saftigen Hochebenen.

Beim Blick zurück gegen die Fahrtrichtung tut sich nicht nur der vergletscherte Gipfel des heute mit einem Skigebiet erschlossenen Tetnuldi-Berges nahe der swanetischen Touristenhochburg Mestia auf, sondern auch der Doppelgipfel des Uschba-Berges. Er, nicht ganz 5.000 Meter hoch, gilt unter Kletterern als einer der schwierigsten Berge der Welt und heißt übersetzt aus dem Georgischen überhaupt „schrecklicher Berg“ (wieder mit Österreich-Bezug übrigens, war doch die Tiroler Bergsteigerin Cenzi von Ficker 1903 beim – misslungenen – ersten Versuch der Erstbesteigung des Uschba-Südgipfels dabei und hat sich daher den Spitznamen „Uschba-Mädel“ eingehandelt. Einmal abgesehen davon, dass der damalige Fürst Dadeschkeliani von Swanetien ihr den Uschba formell geschenkt hat).

Uns führt der „Weg“ weiter durch die Schluchten süd- und dann westwärts. An einer tiefer liegenden Stelle auf etwa Kilometer 50 der Reise, wo der Weg diesen Namen allmählich verdient, hat sich ein Felsen mit Erdreich kurz zuvor gelöst und die Weiterfahrt blockiert. Wir räumen einen Teil frei und schaffen den Rest der Hürde mit einem riskanten Fahrmanöver und der Hilfe einiger Georgier, die auch dort unterwegs sind.

Mit jedem Kilometer mehr kommt dann Zivilisation zurück, vereinzelte Hütten zuerst, später dann zwei, drei kleine Häuseransammlungen, die mit etwas Augenzwinkern als Dörfer bezeichnet werden können. In dem Dorf, das zweifelsfrei bereits eines ist, leuchtet plötzlich aus dem Garten eines villenartigen Hauses, eine überlebensgroße Statue des sowjetischen Diktators und Schlächters Josef Stalin entgegen. Als gebürtiger Georgier wird er vom Hausbesitzer sichtlich verehrt, wie Letzterer auf Nachfragen hin unwirsch zu erkennen gibt und uns damit schnell zu verstehen gibt, dass er an einer Konversation kein Interesse hat, sich vielmehr in seiner Nostalgie gestört fühlt.

Nach über acht Stunden Fahrzeit erreichen wir erschöpft Lentechi, wo uns ein Jahr zuvor von dieser Route abgeraten worden war. Das Gespräch mit den Gastgebern führt schnell weg von der Route hin zur Politik und den von ihnen geäußerten Bedenken, dass der beispiellose Reformweg des Landes ins Stocken geraten oder gar aufgegeben werden könnte. Zum üppigen Essen gibt es diesmal nicht Wein. Dafür eine Flasche einheimischen Kognaks.