Der Abt als Ampelmännchen

Das kleine Fulda im Herzen Deutschlands wurde mit viel Vergangenheit beschenkt.
1. 2023
 

Immer wieder sind es aktuelle Anlässe, die Diskussionen wie diese an die Oberfläche spülen. Doch die Problemstellung ist scheinbar alt wie die Menschheit: Dürfen wir Schönes, Gutes bewundern, das aus Schlechtem, ja Bösem entstand? Zahlreich sind die beeindruckenden Zeugnisse vergangener wie gegenwärtiger Kulturen, die neben großer Ästhetik Systeme der Unterdrückung und des Missbrauchs von Menschen sichtbar machen: Tempel und Pyramiden, Paläste und Kathedralen, Filmkunstwerke, Fußballweltmeisterschaften oder ein himmelb(l)aues Opernhaus auf der Krim.

Fast schon unscheinbar nimmt sich da das Städtchen Fulda im Herzen Deutschlands aus, das noch heute trotz seiner nicht einmal 70.000 Einwohner ein Hochschul- und Bischofssitz ist. Eine kleine Stadt mit großer Vergangenheit – wobei die glanzvolle Geschichte eben auch aus finsteren Geschichten besteht, die sich nicht zuletzt in das beschaulich schöne Stadtbild eingeschrieben haben.

Seit dem frühesten Mittelalter war Fulda Sitz eines Klosters, schon bald wurden die Äbte hier Reichsfürsten und als solche später Herren der Stadt. Oft heißt es unter historisch Halbgebildeten, dass sich der Klerus als Grundherr vergleichsweise fair verhalten habe, Fulda gibt dafür leider kein gutes Beispiel ab. Mehrfach trieben im Laufe der Jahrhunderte unmenschlich hohe Abgaben und Frondienste das Volk zu verzweifelten Aufständen, stets hat man diese brutal niedergeschlagen. Und was wurde mit dem Geld finanziert? Der geistlichen Herren unersättliche Bauwut. Und so freuen wir uns heute über eindrucksvolle, ja einzigartige Kirchen und Schlösser aus vier Epochen der Unterdrückung: (vor)romanisches und gotisches Mittelalter, Renaissance und Barock. Dazu kommt dann noch, um das Schreckensbild harmonisch abzurunden, eine in Fulda besonders ambitionierte Hexenverfolgung mit rund 300 überwiegend weiblichen Opfern in nur drei Jahren (1603 bis 1606). Auch hier können auf Seiten des brutalen Malefizmeisters finanzielle Motive nicht ausgeschlossen werden.

Als Mahnmal erinnert heute – irrtümlich aber eindrucksvoll – der sogenannte „Hexenturm“ an diese Zeit. Der 14 Meter hohe Wehrbau stammt aus dem 12. Jahrhundert und diente unter anderem als Frauengefängnis, allerdings für jene, die nicht (oder nicht offiziell) der Hexerei verdächtigt wurden. Noch einmal deutlich älter ist die Michaelskirche, deren Türme am Rand der historischen Altstadt auf einer kleinen Anhöhe gut gespitzt in den Himmel zeigen. Als „Nachbau“ der Grabeskirche in Jerusalem wurde sie 820 bis 822 im karolingischen Stil errichtet, original aus dieser Zeit erhalten ist die Krypta, ein niedriges Gewölbe, das sich unterhalb der eigentlichen Kirche auf eine zentrale, (womöglich noch ältere) Säule mit schlichtem „ionisierendem“ Kapitell stützt. Dieses und andere Bauprojekte, von denen noch die Rede sein wird, sollen  verantwortlich für eine existenzbedrohende Krise des Klosters gewesen sein. Als Erbauer gilt (wohl auch deshalb) nicht Abt Sturmi, der den Grundstein legte, sondern sein Neffe und Nachfolger (man beachte die, äh, Erbfolge), der auf den (kaum weniger witzigen) Namen Eigil hört. Abt Eigil ist übrigens auf Grund bedeutender von ihm gestifteter Schriften auch bei Germanist*innen und Histriker*innen beliebt. Noch größer ist die Fulda-Freude im alten Fach, weil Konzeption und  symbolisches Programm der Michaelskirche von keinem Geringeren als Hrabanus Maurus stammen dürften. Der bedeutende Universalgelehrte war Alkuin-Schüler in Aachen am Hof Karls des Großen, bevor er Abt in Fulda wurde. Vereinfacht gesagt meint Maurus, die kleine dicke Säule im Untergeschoß und der ebenso zentral gesetzte Schlussstein der früheren Kuppel repräsentierten Jesus Christus: sozusagen als A und O der Welt & Co.

Der solcherart  gedeutete Zentralbau der Michaelskirche wurde im 10. und 11. Jahrhundert erweitert und unter Verwendung alter Elemente (wie der wundervoll unterschiedlichen Kapitelle) wiedererrichtet, atmet also karolingischen Geist, ist aber romanisch. Acht Säulen tragen den runden zum Turm gestreckten Kuppelbau, der auf zwei Geschossebenen umwandelt werden kann (bzw. könnte, der obere Gang ist nicht für Besucher geöffnet); eine Konstruktion voll archaischer Ungenauigkeit, die dennoch (oder gerade deshalb) schwindelerregende Leichtigkeit vermittelt. Durch Anbauten wurde der Grundriss der Michaelskirche dann zu einer Kreuzform erweitert, ein mächtiger rechteckiger Turm steuert der Außenansicht eine zweite Spitze bei.

Ende des 17. Jahrhunderts gelang es dem amtierendem Abt in Fulda das Kloster einige Jahre nach den Verheerungen des 30jährigen Krieges finanziell wieder tipptopp aufzustellen (wie, das wollen wir wahrscheinlich nicht so genau wissen), so topp, dass er der Stadt einen riesigen barocken Dom und an Stelle der Abtburg ein Barockschloss zu schenken vermochte. Für den Dom ließ er die Ratger-Basilika entfernen, im Kern noch älter als die Michaelskirche und zur Zeit ihrer Entstehung der größte Sakralbau nördlich der Alpen. Ganz schön schade sowas.

Verglichen mit dem rundum aus Naturstein gestalteten Dom mit Kuppel und Kapellen präsentiert sich das Stadtschloss (inkl. Schlosstheater) in seiner sehr geordneten Gesamtstruktur nahezu schlicht. Durch einen Park, der nach einer Sanierung den alten Baumbestand des historischen Landschaftsgartens und die rekonstruierte französisch-barocke Anlage vereint, ist das Schloss mit der eleganten Orangerie verbunden, die heute ein Restaurant  beherbergt. Von Schloss und Dom geht es leicht bergab durch das „Barocke Viertel“ zu den älteren von lustig schiefen Fachwerkhäusern geprägten Straßen Fuldas. Auf dem Weg wird die Sichtbarkeit katholischer Macht von Ampelnonnen und -äbten ironisch- berlinerisch unterstrichen. Andere amüsante Elemente der Stadtgestaltung sind vielleicht gar nicht augenzwinkernd gemeint, machen einen aber gewaltig blinzeln [Steinoptik bei E-Spannungskästen]. Besucher*innen aus Österreich fällt am Universitätsplatz eine Metallplastik ins Auge, die wohl „hockender Hund“ hieße, wäre sie von Wotruba (was sie, so wie sie aussieht, auch sein sollte). Aber, knapp daneben: Ihr Schöpfer Georg Brenninger hat laut Internetrecherche nur ganz „im Stil von Fritz Wotruba“ gearbeitet.

Neben der alten Universität (auch eine Art Barockschloss) findet sich die Alte Schule: Hier lassen sich unter dem eindrucksvollen Gewölbe eines mutmaßlichen Jesuitenbaus zwischen Unterrichtsrelikten Kaffee, Drinks und wirklich gutes Essen genießen – zweifellos das sympathischste Gastro-Angebot gleich neben der Altstadt (und das nicht nur, weil es hier mitten im Bundesland Essen Kürbissuppe mit steirischem Kernöl gibt). Zum Brunchen scheinen die Fuldaer am liebsten im Café Ideal zu sein. Das bietet außerdem Torten an und verwandelt sich zu Mittag in ein Restaurant (Pasta, Burger und mehr), am Abend in eine Bar. Und tastsächlich wäre es schade, würden die eindrucksvollen Räume der früheren Landeszentralbank gastronomisch nicht in jeder nur möglichen Form genutzt;)

Das historische Zentrum von Fulda ist durch eine breite Fußgängerzone (Touristiker würden es Flaniermeile nennen) mit dem Bahnhof und dem direkt anschließenden Kongresszentrum verbunden. Wer Wien gerne über den Westbahnhof erreicht, denkt an die „Mahü“ (auch hier geht es stetig leicht bergab, wer Graz kennt, wünscht sich genau sowas für die Annenstraße. Die Fuldaer Altstadt ist so jedenfalls ganz wunderbar für Zugreisende zu erschließen: Das Städtchen öffnet sich seinen Besucher*innen in einer schlüssigen Dramaturgie und lüftet langsam – gleichsam Epoche für Epoche  –  sein Geheimnis. Irgendwie muss man den argen Äbten dankbar sein.